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DAS KOLLEKTIVISTISCHE LOHNSYSTEM.

I.

In ihren Plänen über die Regeneration der Gesellschaft begehen die Kollektivisten[UE 1] unserer Ansicht nach einen doppelten Irrtum. Sie sprechen davon, das kapitalistische Regime abschaffen zu wollen, und nichtsdestoweniger wollen sie zwei Institutionen, welche die Grundlage dieses Regimes bilden, aufrechterhalten: die Repräsentativregierung und das Lohnsystem.

Was die Regierung, welche sich selbst Repräsentativregierung nennt, anlangt, so haben wir uns schon häufig über sie ausgesprochen. Es ist uns absolut unverständlich, wie intelligente Männer – und die kollektivistische Partei ermangelt dieser keineswegs – Anhänger von nationalen oder munizipalen Parlamenten bleiben können, und dies nach allen den Lehren, welche die Geschichte uns in Frankreich sowohl wie in England, in Deutschland, in der Schweiz oder den Vereinigten Staaten bezüglich dieses Gegenstandes gegeben hat.

Während wir sehen, daß das parlamentarische Regime überall zu Grunde geht und während überall schon eine Kritik der Prinzipien dieses Systems, nicht bloß mehr seiner Anwendung, erwacht – wie kommt es da, daß revolutionäre Sozialisten dieses Regime, das offenbar zum Tode verdammt ist, noch verteidigen.

Erdacht von der Bourgeoisie, um die königliche Gewalt zu kontrollieren und zu gleicher Zeit ihre Herrschaft über die Arbeiterklasse zu sanktionieren, ist das parlamentarische Regime die Herrschaftsform der Bourgeoisie par excellence. Die Hauptbegründer und -Verteidiger dieses Systems haben auch niemals ernsthaft behauptet, daß ein Parlament oder ein Munizipalrat wirklich die Vertretung einer Nation oder einer Stadt bilden könne, die Intelligenzen unter ihnen wissen sehr wohl, daß derartiges unmöglich ist. Durch das parlamentarische Regime hat die Bourgeoisie einfach dem Königtum einen Damm entgegensetzen wollen, ohne dem Volke die Freiheit zu geben. Doch in dem Maße, wie sich das Volk seiner selbst bewußt wird und die Mannigfaltigkeit der Interessen wächst, wird ein Funktionieren dieses Systems mehr und mehr unmöglich.

Anmerkungen des Übersetzers

  1. Unsere Sozialdemokraten aller drei Richtungen, die Regierungssozialisten, die Unabhängigen und die Parteikommunisten.
Empfohlene Zitierweise:
Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, Bernhard Kampffmeyer (Übersetzer): Die Eroberung des Brotes. Der Syndikalist, Berlin 1919, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Eroberung_des_Brotes.pdf/141&oldid=- (Version vom 3.6.2018)