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uns über das Leben einer mittelalterlichen Stadt zu unterrichten, jenen Mechanismus des ungeheuren Tauschhandels, der zwischen den Hansestädten stattfand, kennen zu lernen, oder zu erfahren, in welcher Weise die Stadt Rouen ihre Kathedrale erbaut hat. Wenn ein Gelehrter sein Leben darauf verwandt hat, dieses zu ergründen, so bleiben seine Werke unbekannt, und die „parlamentarischen Geschichten“, d. h. die falschen, weil sie nur eine Seite im Leben der Gesellschaften berücksichtigen, wachsen an Zahl, finden Verbreitung und werden in den Schulen gelehrt.

Aber was wir nicht bemerken, das sind jene wunderbaren Leistungen, welche täglich die spontane Gruppierung der Menschen vollbringt, die freie Vereinbarung, welche die Hauptarbeit unseres Jahrhunderts tut.

Aus diesem Grunde gerade haben wir die Absicht, einige dieser bedeutungsvollen Manifestationen hervorzuheben und zu zeigen, daß die Menschen – von dem Augenblick, wo ihre Interessen sich nicht direkt zuwiderlaufen – sich wunderbar über ein gemeinschaftliches Handeln in sehr komplizierten Fragen verständigen können und es auch tun.

Es ist offenbar, daß in der gegenwärtigen Gesellschaft, die auf dem individuellen Eigentum, d. h. auf dem Raub, auf dem beschränkten, stupiden Individualismus basiert ist, Erscheinungen dieser Art notwendiger Weise beschränkt sein müssen; die Vereinbarung ist heute nicht vollkommen frei und läuft häufig auf kleinliche, wenn nicht fluchwürdige Ziele hinaus.

Doch worauf es ankommt, das ist nicht, Beispiele zu finden, die eine blinde Nachahmung verdienen; solche kann uns die gegenwärtige Gesellschaft unmöglich liefern. Was uns notwendig erscheint, das ist der Nachweis, daß es trotz des autoritären Individualismus, der uns völlig erstickt, in der Gesamtheit unseres sozialen Lebens ein sehr großes Gebiet gibt, innerhalb dessen man nur nach freier Vereinbarung handelt, und daß man der Regierung viel leichter entbehren kann, als man im allgemeinen glaubt.

Zur Unterstützung unserer Behauptung haben wir schon früher die Eisenbahnen erwähnt, wir wollen jetzt noch einmal auf sie zurückkommen.

Man weiß, daß Europa ein ungeheures Schienennetz besitzt, und daß man heute auf diesem Eisenbahnnetz nach Belieben reisen kann – von Norden nach Süden, von Osten nach Westen, von Madrid nach Petersburg und von Calais nach Konstantinopel – ohne angehalten zu werden, ohne selbst den Wagen zu wechseln (wenn man einen Expreßzug benutzt). Doch noch mehr; ein Kolli, das man an einem Schalter abgibt, findet seinen Adressaten, wo derselbe auch wohnen mag, in der Türkei oder in Zentralasien, und dies ohne eine andere Formalität, als die, daß man den Namen und Wohnort des Empfängers auf einen Zettel schreibt.

Dieses Resultat konnte auf zwei Wegen erreicht werden. Ein Napoleon, ein Bismarck, irgend ein Potentat, der Europa erobert hatte, könnte auf einer Karte von Paris, Berlin oder Rom aus die Richtungen der Eisenbahnlinien verzeichnen und dann die Fahrzeiten der Züge regeln. Der gekrönte Idiot Nikolaus I. hatte vermeint, so handeln zu

Empfohlene Zitierweise:
Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, Bernhard Kampffmeyer (Übersetzer): Die Eroberung des Brotes. Der Syndikalist, Berlin 1919, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Eroberung_des_Brotes.pdf/115&oldid=- (Version vom 3.6.2018)