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Walther Kabel: Die Aschenurne. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1911, Bd. 8, S. 180–188

las ich den Brief. Aber er war vollkommen sachgemäß abgefaßt.

Dann fragte ich vorsichtig nach dem Verlaufe der vorigen Nacht.

Und wieder lächelte mein Freund so glücklich, als er antwortete: „Ich habe bis zwölf auf Ellinor gewartet, und sie zeigte sich mir wie gestern in derselben Weise. Ich habe wieder angefangen zu weinen. Und nachher war sie fort.“

„Und gesprochen hat sie nichts?“

„Nein. – Vielleicht deswegen nicht, weil ich sie nicht anzureden wagte. Nur zugenickt hat sie mir. Aber ihr Lächeln war nicht mehr so weh.“ – –

Einige Tage nachher erzählte mir Erich, daß er mit dem Entwurf zu einem Roman begonnen habe. Ellinor war ihm inzwischen regelmäßig in jeder Nacht erschienen, wie er mir stets berichtet hatte. Wir sprachen dann miteinander über einzelne Details seiner neuen Arbeit. Er war lebhaft und schon wieder leicht nervös, und ich fühlte auch, daß seine Phantasie fast ganz von den Gestalten des Romans in Anspruch genommen wurde.

Natürlich erfreute mich diese Besserung außerordentlich. Und sie hielt auch an. Er arbeitete bald wieder regelmäßig wie früher.

Auffallenderweise erwähnte er jedoch die nächtlichen Erscheinungen nicht mehr, bis wir dann einen Monat später, als wir eines Abends in seinem Arbeitszimmer saßen und über einer anregenden Unterhaltung die Zeit völlig vergessen hatten, beim Schlagen der Uhr im Eßzimmer gleichzeitig unwillkürlich die tiefen Gongschläge mitzählten.

Es war zwölf.

Verstohlen schaute ich da, einem inneren Zwange folgend, nach der silbernen Urne hin.

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Die Aschenurne. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1911, Bd. 8, S. 180–188. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1911, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Aschenurne.pdf/9&oldid=- (Version vom 31.7.2018)