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preußischen, sächsischen und ausland-deutschen Bestrebungen nicht zu sondern ist; soweit deutsches Kulturland reicht, ist unser Wissenschaftsbetrieb einheitlich und wird es nach lokalen Schwankungen immer wieder.

Eine zweite Schwierigkeit, die sich dem Englischlernenden entgegenstemmt, ist die Syntax. Zahlreiche Lehrbücher bemühen sich, ihre Geheimnisse in Regeln oft sehr verwickelter Natur zu fassen. Man braucht als Beispiel nur deren Vorschriften über Präteritum und Perfekt mit dem Gebrauch dieser Zeiten bei einem so anerkannt vorzüglichen Prosaisten wie R. L. Stevenson[1] zusammenzuhalten, um die Unzulänglichkeit der bisherigen Regeln klar zu ersehen. Es hat sich daher in den Anglistenkreisen vor kurzem der laute Ruf nach mehr Syntax erhoben: das muß zu tieferem Interesse für die Stilkunst neuer und alter Autoren führen; mancherlei Versuche dieser Art sind schon zu verzeichnen. Der Stil aber ist wieder der beste Weg weiter zum Verständnis der dichterischen Persönlichkeit, also zu den edelsten Geheimnissen aller Philologie.

Die Menschen verständigen sich nicht bloß durch Worte; je mehr gemeinsame Kenntnisse, Sitten und Empfindungen der eine beim andern voraussetzen kann, desto besser vermögen sie sich gegenseitig zu erraten. Deshalb ist der Sprachunterricht untrennbar von möglichst vielseitigem Studium des Volkes und Landes: das bringt uns auf ein drittes Gebiet, wo die realistische Umwälzung schließlich doch zum Frommen der Wissenschaft ausschlägt. Der junge Anglist – gleich dem Romanisten – interessiert sich jetzt systematisch auch für die neueren Schriftsteller, bis herab zu denen der Gegenwart; er fährt über die Nordsee, um die britische Kultur mit eigenen Augen zu sehen; er geht, lieber als jemals vorher, ihren Gründen in der Geschichte nach. Ein Buch ist so entstanden, betitelt „Das moderne England“, das den Gesamtkreis der englischen Philologie, die historische Grammatik eingerechnet, vom Standpunkt der Realien aus zu erfassen sucht. Solche Umsicht bei der Erforschung fremden Volkstums in der Gegenwart kommt sicherlich auch dem Sinn für altes Dichtungs- und Dichterleben zugute. Was Religion und weltliches Denken in der Shakespearezeit, was Sage und Sangeskunst weiter zurück bis zur Beowulfperiode bedeutet haben, ist dabei für den Anglisten immer wissenswerter geworden. In einer Menge Einzelschriften wurde bereits untersucht, wie Volksballaden entstanden, wie die Phantasie früherer Erzähler dem Genius Shakespeares vorarbeitete, wie das Lied des germanischen Spielmanns oder das Märchen der Alltagsmenschen umgegossen wurde zum Großepos einer schulmäßig gebildeten Dichterschaft. Diese Probleme erfreuen sich gegenwärtig besonderer Beliebtheit; sie liegen auf der Grenzscheide von Stoff- und Denkgeschichte; der Mutterwitz und die Weisheit der Vorfahren wird uns dabei offenbar.

Soviel läßt sich, ohne weiter aufzuzählen, bereits absehen: das englische Studium an unseren Universitäten wird nach Überwindung der Krise wissenschaftlich gefestigter dastehen als vorher. Mag zeitweilig die Vollendung großangelegter Buchunternehmungen bedauerlich stocken – ein wohlunterrichteter Schüler hat manches vor einem Buch voraus: er ist eine lebendige Potenz, die sich aktiv durchsetzen kann, während ein Buch warten muß, bis man es aufnimmt; er kann sich selbst erklären, während ein Buch der Erklärung durch andere bedarf; er kann fortschreiten, das Buch veraltet. Überdies kann man bereits


  1. Druckfehlerberichtigung im 3. Band: lies „Stevenson“ statt „Stephenson“
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/82&oldid=- (Version vom 20.8.2021)