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Größe der neuen Aufgabe zu ermessen. Mit der Sprache von heute kam notwendig die Literatur und Landeskunde von gestern herein. Neue Unterrichtsweisen mußten erfunden werden: Phonetik, Sprechkurse, Auslandsbesuche. Da es sich um Vermittlung eines praktischen Könnens handelte, rückte das Üben viel mehr als bisher in den Vordergrund. Aus einer theoretischen Wissenschaft wurde das Fach halb zu einer angewandten.

Die Arbeit wurde hiemit verdoppelt, aber nicht die akademische Arbeitszeit der Lernenden, nicht die Arbeitstraft der Lehrenden. Indem die Studierenden auf der modernen Seite fortschritten, mußte eine verbesserte Pädagogik ein Zurückbleiben auf der mittelalterlichen Seite möglichst vermeiden – noch dazu bei verminderter Lateinkunde der Zuhörerschaft. Indem sich eine Unzahl Vorprüfungen, Zwischenprüfungen, Endprüfungen, Seminararbeiten und Dissertationen einstellte, sollten die Dozenten doch in der wissenschaftlichen Produktion nicht erschlaffen. Es war eine Krisis, und sie ging nicht ab ohne Unzuträglichkeiten.

Indes zeigte sich wieder die Wahrheit des Sprichworts, daß Not Tugend schafft. Im Ringen mit den realistischen Schwierigkeiten ergaben sich bisher unausgenützte Mittel und Wege, um die historische Seite des Faches zu fördern; aus den Verlegenheiten der Anglistik vor zehn und zwanzig Jahren erwuchsen ihr bessere Aussichten für die Zukunft.

Die Phonetik in erster Linie erstarkte an der Schwierigkeit der englischen Laute, Wortakzente und Satzmelodie: Ohrbildung und Zungenübung wurden dabei gefördert. Die Hoffnungen, daß dies zu einer Blüte der experimentellen Phonetik führen würde, haben sich allerdings bisher nicht erfüllt. Vergebens zog Professor Scripture mit seinen Lautkurven, Grammophonplatten und Vergrößerungsapparaten von einer deutschen Universität zur anderen, um hingebungsvolle Mitforscher zu gewinnen. Die Dozenten waren bereits überlastet, die Studierenden dachten meist an das Staatsexamen, beiden fehlte gewöhnlich die erforderliche Vertrautheit mit Akustik und Rechenkunst. Aber das Studium der modernen Dialekte zog den Vorteil: in den entlegensten englischen Grafschaften tauchten jetzt junge deutsche Anglisten auf mit Notizbuch und Aufnahmsmaschine für die bäuerlichen Idiome. An den meisten Orten ist die Mundart in raschem Aussterben begriffen; sie ist unnützlich, daher dem Engländer nicht sonderlich erforschungswert; und doch kann sie uns als Palimpsest dienen, um die Sprachgeschichte in verflossenen Jahrhunderten und selbst die angelsächsische Einwanderungsweise aufzuhellen. Auch direkt kam die Phonetik unseren Linguisten zu Hilfe und lehrte sie gewohnheitsmäßig sondern zwischen Schreibung und Sprechweise, Literatur- und Umgangsrede, hauptstädtischem und provinziellem Schriftgebrauch. In aller Linguistik wird es immer mehr offenkundig, daß man das Wesen der Sprache zunächst da beobachten muß, wo sie noch erklingt: im lebendigen Gebrauch, und dann erst in den alten Aufzeichnungen, über deren Zustandekommen uns selten eine Quelle unterrichtet. Dem Anglisten hat dies der Zwang zur Phonetik besonders eingeprägt. Die Früchte davon treten reichlich zutage in den altenglischen Lautforschungen von Sievers-Leipzig und Bülbring-Bonn, Morsbach-Göttingen und Luick-Wien. Die Namen deuten zugleich an, daß hierbei zwischen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/81&oldid=- (Version vom 20.8.2021)