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Bahn, daß, wenn die moderne Philologie mit der klassischen wetteifern will, sie auch ihrem Beispiele folgend versuchen muß, das gesamte Kulturleben der Gegenwart fremder Völker zu erfassen. Freilich verschließt sich die moderne Philologie nicht der Erkenntnis der Schwierigkeit dieser Aufgabe. Sie weiß sehr wohl, daß sie nie in derselben Vollständigkeit dieses Ideal erreichen wird, wie die klassische Philologie, die ein zeitlich abgeschlossenes und viel engeres Gebiet zu erforschen hat. Nichtsdestoweniger sucht sie dem Ideale im Maße des Erreichbaren nachzugehen, zur Belebung der engeren Philologie und Literatur und zugleich in dem Bewußtsein durch tieferes Eindringen in den Geist der Nachbarn des eigenen Volkes, dem Vaterlande den besten Dienst zu tun. Denn durch den Vergleich erkennt man erst seine eigenen Schwächen und sucht sich zu bessern, wo es not tut.

Die zahlreichen „Sammlungen“ und „Bibliotheken“, die in unserem Zeitraum die verstreuten Schriftwerte des romanischen Mittelalters und der romanischen Neuzeit dem Leser in vorzüglichen Ausgaben vorführen, stehen auch unter diesem so charakteristischen Zeichen der Organisierungstätigkeit. Denken wir nur an Wendelin Foersters „altfranzösische und romanische Bibliothek“, an Suchiers Bibliotheca normannica[WS 1], an Vollmöllers Gesellschaft für romanische Literatur, an Gröbers Bibliotheca romanica, an die von Meyer Lübke ins Leben gerufene, von Winter in Heidelberg herausgegebene Sammlung romanischer Elementarbücher, die in die Grammatik und Literatur der romanischen Völker den Anfänger einzuführen sucht, freilich oft ohne ihm das Eindringen leicht zu machen, an die Sammlung von Voretzsch, die dasselbe Ziel verfolgt, wenn auch nicht in so großem Umfang, aber mit unleugbarem pädagogischen Geschick, an soviele Chrestomathien und Sammlungen von Abhandlungen und Dissertationen. Denken wir an die Gründung einer Zeitschrift wie Schädels Revue de dialectologie romane, welche die Mundartenforschung zu zentralisieren sucht, und die Wintersche Germanisch-romanische Monatsschrift, welche die Ergebnisse der Wissenschaft in weiteren Kreisen zu verbreiten trachtet. Und so sehen wir wie überall dieselbe rege organisatorische Tätigkeit im romanischen Lager herrscht. Ja, sie führt sogar zur Gründung von Instituten, wie die 1900 erfolgte Stiftung des Instituts für rumänische Sprache in Leipzig durch Gustav Weigand, das in seinen Jahresberichten das Beste bietet, was über Rumänisch erscheint und in seinem Phonetischen Atlas des daco-rumänischen Sprachgebiets ein vollständiges Bild der rumänischen Sprache zu geben versucht. Die bessere Ausstattung so mancher romanischer Seminare – ich denke vor allem an Frankfurt und Hamburg – die Gründung des von Panconcelli Calzia in letzterer Stadt geleiteten Instituts für experimentelle Phonetik, das den romanischen Bedürfnissen auch in großem Maße Genüge tut, steht unter demselben Zeichen.

Aber auch die Arbeit einzelner ist in unserem Zeitraum eine sehr rege gewesen. Abgesehen von den im Grundriß erschienenen Grammatiken, abgesehen von der in Österreich von Meyer-Lübke und seinen Schülern entfalteten außerordentlich fruchtbaren Tätigkeit auf grammatischem und lexikographischem Gebiete, auf die wir in diesem Zusammenhang nicht einzugehen vermögen, können wir in Deutschland selbst in grammatischer Hinsicht auf einige Leistungen zurückblicken, welche der Entwickelung unserer

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: nozmannica
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/74&oldid=- (Version vom 20.8.2021)