Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 3.pdf/70

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

ans Licht treten; im eigenen Heim sammelt sie ein umfassendes Repertorium der deutschen Handschriften, das neben den Höhen auch die Flachgründe der literarischen Kultur eingehend beleuchten wird; und sie hat, gestützt vor allem auf die Arbeitskraft und vielseitige Sachkunde Gustav Roethes, einen Herzenswunsch aller Freunde der alten Literatur erfüllt, und in rascher Folge eine lange Reihe von wichtigen und interessanten deutschen Texten des Mittelalters in vorsichtig gesäuberter handschriftlicher Überlieferung ans Licht gebracht, auf deren nähere Bekanntschaft wir lange und schmerzlich verzichten mußten. Seit den Jugendtagen unserer Wissenschaft ist unsere Kenntnis des wichtigsten Quellenstoffes nie in ähnlicher Weise bereichert worden. Hier liegt Material zu sprachlichen und literargeschichtlichen Untersuchungen in Fülle vor uns ausgebreitet, und ganze Gebiete der Epigonenliteratur, wie z. B. die Dichtung des Deutschen Ordens, sind uns neu erschlossen worden.

Wir haben bisher im wesentlichen von der Beschränkung und der Ausbreitung der Forschungsgebiete gesprochen, wir holen nach, was von der Zusammenfassung der Arbeit, von der Vertiefung der Forschung und von den[WS 1] Fortschritten der Methoden in den letzten fünfundzwanzig Jahren noch zu berichten ist. Auf allen Gebieten herrscht, wie wir sahen, eine rege Tätigkeit, aber die zusammenfassende Darstellung hat sich meist auf die enzyklopädische Form im größeren Rahmen beschränkt. Seit Scherers Literaturgeschichte ist keine einheitliche Darstellung der geistigen Entwicklung der Nation, wie sie sich in der schönen Literatur spiegelt, erschienen, wenigstens keine, die einen wissenschaftlichen Charakter trüge; und mit Ausnahme des 19. Jahrhunderts hat auch kein größerer Zeitraum die Gelehrten zu wissenschaftlicher Darstellung verlockt. Von einer Darstellung des 18. Jahrhunderts hat Albert Köster Proben gegeben, die viel versprechen, für die Romantik bot uns Oscar F. Walzel vorläufig eine durchaus eigene Darstellung auf engem Raume. Biographie und Edition haben für Lessing das Beste geleistet in den Arbeiten Erich Schmidts und Franz Munckers, sind für Goethe und Schiller überaus ergiebig gewesen, haben aus der vorklassischen Periode Gottscheds Andenken bald mit kritischer Methode, bald in unkritischem Übereifer von Schlacken zu befreien gesucht, aus den Männern des Sturms und Drangs Klinger und Lenz mit besonderer Vorliebe behandelt. Während uns kritische Ausgaben von Opitz und Gryphius fehlen, schreitet die große Luther-Ausgabe unter ihrem neuen Redaktor (K. Drescher) mit raschen Schritten der Vollendung entgegen.

Für das Mittelalter hat Anton E. Schönbach (gest. 25. August 1911) durch Erschließung der geistlichen Quellen mehr als alle anderen getan, während er die Forschung über Walther v. d. Vogelweide kaum zu fördern vermochte, die überhaupt seit den Arbeiten von Burdach und Wilmanns keine nennenswerten Fortschritte aufzuweisen hat. Aber die Vorgeschichte des Nibelungenliedes und der Kudrun, über die Quellen des Parzival und den Bildungsumfang Wolframs hat ein reger Meinungsaustausch stattgefunden, ohne zu völliger Klarheit zu führen. Sicherer Gewinn ist die Festlegung der Reihenfolge für die Werke Hartmanns von Aue und Konrads von Würzburg. Um die Geschichte des Minnesanges und der Spruchdichtung haben sich die Anfänger in Ausschnittarbeiten fast zu viel, die reiferen Gelehrten zu wenig gekümmert. Die Neubearbeitung von „Minnesangs

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: der
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1199. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/70&oldid=- (Version vom 20.8.2021)