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den Rest des eigenen Lebens zwischen den selbstgewählten Aufgaben und der Vollendung von Müllenhoffs Lebenswerke zu teilen, als ihn selbst, 45jährig, der Tod ereilte (6. August 1886). Die Mahnung, die Einheit der Wissenschaft festzuhalten, wie sie Jacob Grimm geschaffen und er selbst sie fortgebildet hatte, wirkt in vielen Schülern Scherers nach, aber nur wenige haben die Kraft und Beweglichkeit zugleich, sie in produktiver Arbeit zu verwirklichen, und nur einem ist es möglich gewesen, großen Werken über Goethe und die Literatur des 19. Jahrhunderts eine altgermanische Religionsgeschichte folgen zu lassen (Richard M. Meyer). Die reiche Wirksamkeit, welche Scherers Nachfolger auf dem Berliner Katheder, sein Schüler Erich Schmidt als Schriftsteller und Lehrer entfaltet hat, ist zum guten Teil doch in der Beschränkung auf die neuere Literatur begründet, zu der er nach einer gründlichen Schulung im Sinne Scherers frühzeitig gelangt war.

Erich Schmidts (gest. 29. April 1913) 26jährige Berliner Lehrtätigkeit umspannt reichlich den Zeitraum, dem sich die folgende Betrachtung zuwendet, und sie beleuchtet im Verein mit der Arbeit seines Wiener Kollegen Jacob Minor (gest. 28. November 1912) am hellsten den Aufschwung, den speziell das Studium der neueren Literaturgeschichte in dieser Periode genommen hat, ein Aufschwung, der in der Begründung einer großen Anzahl neuer Professuren seinen Ausdruck fand, und von dem fast alle deutschen Hochschulen Zeugnis ablegen in einer wachsenden Zahl wissenschaftlicher Erstlingsarbeiten.

Dieser gelegentlich etwas übereifrige Betrieb war wohl kaum vorauszusehen, als es Hermann Paul vor genau 25 Jahren unternahm, in einem „Grundriß der germanischen Philologie“ zum ersten Male das Gebiet unserer Wissenschaft unter Ausschluß der neueren Philologie enzyklopädisch zusammenzufassen: mit einem Stabe von 30 Mitarbeitern. Das Werk, dem ein starker buchhändlerischer Erfolg beschieden war, und das in einer zweiten Auflage wesentliche Lücken der ersten ausfüllte, strebte die Wissenschaft Jacob Grimms zu umspannen, konnte dies aber nur durch Heranziehung einzelner Hilfskräfte von außerhalb der deutschen Philologie erreichen. Die deutsche Rechtsgeschichte hat sich seit den Tagen von K. Fr. Eichhorn und Jacob Grimm zu einer mächtigen Disziplin ausgewachsen, der die Philologen kaum zu folgen vermögen, geschweige denn, daß ihnen selbst noch ein wesentlicher Teil der Mitarbeit zufiele. Die Geschichte der bildenden Künste ist ein Arbeitsfeld von so großem Reichtum und so eigenartigen Schwierigkeiten, daß wir sie den Spezialgelehrten überlassen müssen und nicht einmal eine Verbindung erreicht haben, wie sie zwischen klassischer Philologie und Archäologie zum Heile beider besteht und gewiß immer bestehen wird. In der Tat ist die direkte Befruchtung unserer Studien von der Kunstgeschichte her nicht in dem Maße erfolgt, wie man es wohl gelegentlich erwarten durfte, und der Historiker des mittelalterlichen Kunst seinerseits mag immerhin der literarischen Quellen eher entraten, als der klassische Archäologe. Aber daß aus einer tiefer bohrenden literargeschichtlichen Betrachtung sich auch hier wichtige Zusammenhänge ergeben, haben die Forschungen Konrads Burdachs über die böhmische Renaissance des 14. Jahrhunderts gezeigt, deren Wirkung vorläufig auf dem Gebiete der Kunstgeschichte deutlicher zutage tritt, als in unserer eigenen Wissenschaft. Die mittelalterliche Musik steht mit dem Minnesang und Volkslied in so innigen Zusammenhang, daß wir hoffen müssen, auch nach dem Tode Rochus von Liliencrons (gest. 5. März 1912), der Literaturgeschichte

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/66&oldid=- (Version vom 20.8.2021)