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Kultur geherrscht hat, so haben auch die turkistanischen Funde erkennen lassen, daß mit dem Buddhismus in seiner Mahāyāna-Form indische Kunst und Kultur in die weiten Gebiete Mittelasiens hinausgezogen sind, und sie haben so den Weg deutlich gemacht, auf dem die Religion des Buddha Jahrhunderte hindurch ihren Siegeslauf nach Norden und Osten unternommen hat.

Die lamaistische Ausgestaltung des Buddhismus in Tibet und der Mongolei war zwar seit dem Erscheinen des großen, noch immer in der ersten Reihe stehenden Wertes von Koeppen im allgemeinen bekannt, aber eine Kenntnis des Mittelpunktes dieser seltsamen religiösen Welt, der Tempelstadt Lha-sa, hat doch erst das kriegerische Unternehmen Englands gegen Tibet im Jahre 1903/04 gebracht. Das Studium der tibetischen Literatur ist während der letzten Jahre allmählich in Fluß gekommen. Die Königliche Bibliothek besitzt zwei Ausgaben des Kandschur und eine – leider wenig deutliche – des Tandschur, der beiden großen Sammlungen der heiligen buddhistischen Schriften und ihrer Kommentare, die in der Mehrzahl aus dem Sanskrit übersetzt sind, so daß das Material für die buddhistischen Studien vorhanden ist. Indessen ist hier die Arbeit noch nicht über die Anfänge hinausgekommen. Die Indologie, die sich zum Glück von ihrer Verbindung mit der Sprachwissenschaft mehr und mehr frei gemacht hat, sollte sich statt dessen diesen ihr innerlich verwandten Gebieten zuwenden. Kenntnis des Sanskrit ist eine Vorbedingung für tibetische Studien, und andererseits scheint die originale tibetische Literatur, die an Umfang und Inhalt reicher ist, als man noch vielfach glaubt, auch über indische geschichtliche Zusammenhänge und Entwicklungen Licht zu verbreiten, wo die einheimischen Quellen versagen.

Einen neuen Abschnitt in unserer bis dahin sehr mangelhaften Kenntnis von der Geschichte und Kulturgeschichte Mittelasiens haben die bereits erwähnten, mit so glänzenden Erfolgen gekrönten Grabungen in Chinesisch-Turkistan vom Anfang dieses Jahrhunderts an eröffnet. Es wird immer ein Ruhmesblatt der preußischen Regierung bleiben, daß sie, nachdem die erste, zum großen Teil durch private Spenden ermöglichte Expedition von 1902/03 die Aufmerksamkeit auf die im Sande des Tarim-Beckens ruhenden archäologischen Schätze hingewiesen hatte, ohne Zaudern die Mittel bewilligte, um die Nachforschungen im Turfan-Sebiet in größerem Maßstabe fortzusetzen. Die beiden nun folgenden Expeditionen von 1904 bis 1907 haben die daran geknüpften Hoffnungen reichlich erfüllt; eine vierte ist jetzt unterwegs. Die Ausstellungen von einem Teil der Funde, die das Museum für Völkerkunde veranstaltet hat, und denen auch der Kaiser sein persönliches Interesse zuwandte, so glänzend sie sind, geben bei weitem kein vollständiges Bild von der Bedeutung der Ergebnisse. Die Berichte der chinesischen Geschichtsschreiber, Pilger und Reisenden über die Staaten in der großen innerasiatischen Senkung und ihren Randgebirgen vor fünfzehn und mehr Jahrhunderten bekommen jetzt Leben. Wir sehen an den vom Sande aufbewahrten Resten, daß diese endlosen Wüsten von heute einst der Schauplatz folgenschwerer weltgeschichtlicher Vorgänge und reichen geistigen Schaffens waren. Nicht bloß die verschiedenartigsten Völker und Rassen aus Ost und West gerieten dort durcheinander, sondern ganze Kultursysteme trafen zusammen und schufen in gegenseitiger Befruchtung

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/62&oldid=- (Version vom 14.9.2022)