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der auf diese Weise weiter und tiefer sieht, zum Ankämpfen gegen Unvernunft und Mißbrauch, zum sich Emanzipieren von Veraltetem und zum sich Hinwegsetzen über Schlechtes. Daß unsere Studenten in der ihnen gewährten Lebensfreiheit und in ihrem Losgelöstsein vom Elternhaus und von der Heimat, wo man sie kennt, in der fremden Stadt, wo man sie nicht kennt, sich nicht an die Philistersitte kehren und mit Spott und Ulk oder mit Trotz und Kühnheit die durch sie gezogenen Schranken rücksichtslos überspringen, das kommt nicht bloß ihnen selbst für ihre ganze weitere Lebensführung zugut, sondern ist so etwas wie ein Jungbrunnen für Sitte und Moral unseres Volkes im ganzen, indem es allen die endlichen und unvernünftigen Seiten des Nomos zum Bewußtsein bringt und gerade den führenden und leitenden Kreisen immer aufs neue solche zuführt, die einmal wenigstens in ihrem Leben sich auch der Sitte gegenüber frei gefühlt und aufgehört haben, ihre Knechte zu sein. Das ist das Interesse, das die Öffentlichkeit und das ganze Volk an der Erhaltung der studentischen Lebensfreiheit hat.

Ehe und Geschlechtsverkehr.

Daß nun auch unsere Anschauungen über das Verhältnis von Mann und Frau, über Ehe und Geschlechtsverkehr in diesen Fluß des Nomos hineingezogen werden und in beständiger Umwandlung begriffen sind, und daß auch dabei vieles nicht so ist, wie es sein sollte, darüber ist kein Zweifel. Prostitution, Ehebruch und das Leichtnehmen mit der Ehescheidung bilden dunkle Kapitel unserer Kultur; und daß die doppelte Moral, trotz ihrer in der Mutterschaft, also natürlich begründeten Unterlage die Frauen aufs äußerste empört, ist ihr gutes Recht. Aber daß es besser würde durch Lockerung der Monogamie und Anerkennung des Rechts auf freie Liebe und durch ein besonderes Hegen und Pflegen und Schützen der unehelichen Mütter und Kinder, die es heute schon vielfach besser haben als die kindergebärenden Arbeiterfrauen und deren eheliche Kinder, das vermag ich nicht zu glauben. Deshalb lehne ich diese Art von „neuer Ethik“ und den sie propagierenden Teil der Mutterschutzbewegung ab und meine nach wie vor, daß in dem Festhalten an der Heiligkeit der Ehe als monogamischer für das sittliche Leben nicht nur, sondern auch für die Volksgesundheit und Volksvermehrung, für den Schutz von Müttern und Kindern am besten gesorgt sei und mit ihr allein das Heil der Nation bestehen könne. Dieses Festhalten ist keine Heuchelei und kein Vergessen des Tatsächlichen mit seinen vielen übeln Ausnahmen und schwarzen Schatten, sondern eine sittliche Forderung, die allen Menschlichkeiten und Häßlichkeiten zum Trotz immer wieder erhoben werden muß, ein Ideal nicht als ein weltfremdes und verlogenes Schönfärben, sondern als eine unendliche Aufgabe, der wir uns freilich immer nur annähern können, der wir aber auch stetig näher kommen müssen.

Viel mehr Heuchelei scheint mir in der Behandlung der Prostitution und in anderer Weise in der des Zweikampfes zu liegen. Indem dort die Polizei mit der einen Hand reglementiert, was durch das Strafgesetz mit der anderen verboten wird, oder hier mit der einen Hand erzwungen wird, was doch gesetzlich bestraft werden muß, verwirren sich die Rechtsbegriffe und leidet das Rechtsbewußtsein des Volkes Not. In beiden Fällen schiene mir ein klares Entweder-oder so oder so für unser öffentliches Leben ersprießlicher als das einfachem Sinn unverständlich bleibende Sowohl-als-auch.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1686. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/557&oldid=- (Version vom 12.12.2020)