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getan, und was Gemeinden und die Privatwohltätigkeit im Bund mit ihnen namentlich in der Wohnungsfürsorge und in Einrichtungen für körperliche Pflege der Wöchnerinnen und für Bewahrung und Erziehung der Kinder geleistet hatten, reichte bei weiten nicht aus, und so ist der staatssozialistische Gedanke immer mehr durchgedrungen, daß im Interesse der Moral, der gefährdeten Nachkommenschaft und der zu besorgenden Hauswirtschaft besondere Schutzvorschriften von seiten des Staates erlassen werden müssen. Daß es dabei an weiblichem Drängen und weiblichem Beirat nicht gefehlt hat, hebt die Tatsache nicht auf, daß es schließlich doch die Männer gewesen sind, die so für die Frauen gesorgt haben. Auf der andern Seite wollen wir freilich nicht verkennen, daß manche Männerbrutalität in unserer Gesetzgebung steckt und durch die Frauen, die darunter leiden, rascher und gründlicher beseitigt werden könnte, wenn sie direkten Einfluß auf dieselbe hätten, als dies von einer einseitigen Männergesetzgebung zu erwarten ist. Dagegen beweist die Berufung auf Einrichtungen und Errungenschaften in Norwegen oder Finnland, in nordamerikanischen Staaten oder australischen Kolonien bei der großen Verschiedenheit der Verhältnisse für uns natürlich gar nichts. Wir Deutsche haben diese Fragen und Probleme lediglich nach unseren Bedürfnissen und Anschauungen aus uns selbst heraus und für unser Leben zu lösen und zu regeln.

„Neue Ethik“.

Aus dem Gesagten erhellt, wie energisch und wie tief die Frauenfrage und die Frauenbewegung in das ganze öffentliche Leben eingreift. Dagegen müssen wir gerade an dem Punkt, von dem wir zuallererst ausgegangen sind, dieser Bewegung mit ganz besonderer Vorsicht gegenübertreten und sie mit ganz besonders feinen Fingern anfassen: ich meine den Begriff des Nomos im Sinn der Sitte. Es ist in der Bewegung vielfach auch von einer „neuen Ethik“ die Rede, und manche Frauenrechtlerinnen, vor allem die Führerinnen der Mutterschutzbewegung, verkündigen mit lautester Stimme, daß eine solche durch die Mitwirkung der Frau kommen müsse und kommen werde. Wenn dabei an eine radikale und plötzliche Veränderung und Revolutionierung unserer ethischen, auf den Nomos im ganzen Umfang seiner Bedeutung sich beziehenden Anschauungen gedacht wird, so ist das schon deswegen abzulehnen, weil wir in diesen tiefen und unser ganzes Volksleben tragenden und bestimmenden Fragen und Problemen einen radikalen Bruch mit dem Geltenden und Bestehenden überhaupt weder wünschen noch herbeiführen dürfen und sollen, erfreulicherweise auch nicht können. Gerade in der Dauerbarkeit und Haltbarkeit des Nomos besteht ja sein größter Wert; auf ihr beruht die Stetigkeit unseres Lebens und die Gesundheit und das Gesundheitsgefühl unseres Volkes. Aber Dauerbarkeit und Haltbarkeit ist nicht Verknöcherung und Verkalkung und soll es nicht sein. Davon war ja schon wiederholt die Rede. Die Sitte ist in steter Wandlung begriffen, und trotz des in ihr steckenden allgemeingültigen und ewigen Kernes ebenso auch die Sittlichkeit, soweit sie mit ihr zusammenhängt. Ein beständiges Differenzieren und Umbilden, Verfeinern und Raffinieren findet hier statt, neue Aufgaben treten an uns heran und zwingen vor der Lösung zu tieferem Besinnen und zur Kritik am Geltenden; die Ethik als Wissenschaft ist eine kritische Wissenschaft. Und das führt denn auch den einzelnen,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1685. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/556&oldid=- (Version vom 12.12.2020)