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die Sache freilich am verkehrten oberen Ende angefangen und darüber versäumt, erst einmal zu dieser höheren Bildung den Grund zu legen und den Mädchen die nötige Vorbildung zu schaffen. Aber taktisch war es vielleicht doch richtig: wenn das Höchste erreicht war, mußte das Niedere nachkommen; und wirklich schritt man, nachdem man eine Zeitlang die Frauen sich privatim auf das Universitätsstudium hatte vorbereiten lassen, bald genug zur Gründung von Mädchengymnasien oder erlaubte ihnen den Besuch der höheren Knabenschulen (Koedukation). 1900 hat Baden Frauen mit Abiturientenzeugnis zur vollen Immatrikulation zugelassen, anderswo wurden sie wenigstens als Hörerinnen geduldet; aber schon 1908 war es erreicht, daß auf allen deutschen Universitäten Frauen mit dem Zeugnis der Reife das volle akademische Bürgerrecht gewährt wurde; und die Mädchenschulreform in Preußen vom Jahre 1908 rief dann für Mädchen, die studieren wollten, die Studienanstalten ins Leben, die sie darauf vorzubereiten haben, während die kleineren Staaten daneben an der Koedukation festhalten, so daß nun überall für die nötige Vorbildung gesorgt ist. Ob dabei der weiblichen Eigenart immer auch genügend Rechnung getragen oder diese Vorbildung nicht der der männlichen Jugend allzu gleichartig, nicht bloß gleichwertig gestaltet ist und was die studierenden Frauen wissenschaftlich leisten, das muß sich erst noch herausstellen. Großer Fleiß, großer Ehrgeiz und mehr Rezeptivität als selbständiges Denken treten uns einstweilen unverkennbar bei Gymnasiastinnen und Studentinnen entgegen.

Das Problem ist aber heute viel mehr schon einen Schritt weiter, es ist das, was aus diesen studierenden Frauen werden soll? Verständnisvolle Genossinnen und gleichstrebende Mitarbeiterinnen ihrer Männer und hochstehende Erzieherinnen ihrer Kinder, habe ich schon gesagt, und das wird immer noch die beste Lösung sein und wird der Ehe eine solidere Grundlage geben als das bloße Kennenlernen im Tanzsaal oder auf den Lawntennisplätzen. Allein abgesehen von der Überzahl der Frauen und der egoistischen Scheu vieler junger Männer, einen Hausstand zu gründen – die notwendige Konsequenz des Frauenstudiums und die ausdrückliche Absicht derer, die dafür gekämpft haben, ist es jedenfalls, daß die, die die gleichen Studien wie die Männer gemacht und die gleichen Prüfungen abgelegt haben, ihre Kenntnisse auch beruflich verwerten wollen. In zwei Fakultäten ist ihnen das bereits gelungen: die Frau kann Ärztin und sie kann Oberlehrerin werden. Das erstere ist für Frauen- und Kinderkrankheiten ein Gewinn, das andere einfach die Fortsetzung dessen, was lange schon da war: Volksschullehrerin, Lehrerin an höheren Töchterschulen – da ist die Oberlehrerin an der Studienanstalt oder an den Lyzeen nur die oberste Sprosse der Leiter, die bisher noch gefehlt hat. Auch das Amt des Geistlichen wird ihr – wenigstens in den protestantischen Kirchen – auf die Dauer kaum verschlossen bleiben können, da ja gerade die Pflege des Religiösen den Frauen besonders am Herzen und obliegt. Daß die Frau auch als Advokat ihren Mann stellen kann, wissen wir schon von Shakespeares Porzia her; bei den Jugendgerichten jedenfalls können Juristinnen gute Dienste tun. Doch wird gerade hier die Angst vor der Konkurrenz Schwierigkeiten und Hemmungen schaffen; denkt man doch selbst bei den Männern an einen numerus clausus für die Advokatur. Dagegen glaube ich nicht, daß es der Natur der Frau und noch weniger, daß es der germanischen Auffassung entspricht, die sie ja trotz ihrer

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1682. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/553&oldid=- (Version vom 12.12.2020)