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der Fächer nach der Realienseite hin. Noch bei Gründung des Berliner Seminars für orientalische Sprachen – schon in dieser Schöpfung kündet sich eine neue Zeit an – stehen eben die Sprachen im Vordergrund; der Orientalist war in erster Linie Sprachforscher, Linguist, der im Nebenamt die antiquarischen oder realistischen Themata seines Faches mit abhandelte. Gewiß ist die philologische Bildung unerläßlich, und mit Recht sind noch viele Gelehrte ausschließlich sprachlich interessiert, aber auch sie machen ihre Studien immer mehr am lebenden Objekt, während andere sich offen dazu bekennen, die Sprache nur als Mittel zum Zweck zu betreiben. Dieser Zweck aber ist die Kenntnis der gesamten Kulturverhältnisse des betreffenden Gebietes, mögen sie gegenwärtige oder vergangene sein. Religionswissenschaft, Archäologie, politische und Wirtschaftsgeschichte werden zum Selbstzweck auch in der Orientalistik und hören auf als Schmuck philologischer Textinterpretationen zu dienen. Noch muß sich zwar häufig der Orientalist als „Mädchen für alles“ verdingen, aber ein neuer Morgen steht vor der Tür, da die Wichtigkeit des Orients für unsere deutsche Gegenwart uns zwingen wird, die innerlich längst vollzogene Gliederung durch Trennung der Lehrstühle auch äußerlich anzuerkennen. Neues Leben sprengt überall die historischen Formen. Und 20 Jahre nach der Gründung des orientalischen Seminars ist das Hamburgische Kolonialinstitut, so recht ein Kind der Gegenwart, der Vermittlung des realen Wissens vom Orient und Afrika gewidmet, ohne daß darum die sprachliche Ausbildung zu leiden hätte. Auch das Seminar für orientalische Sprachen hat sich dieser Verschiebung des Schwergewichts schnell angepaßt. Daß Deutschland zwei so große Institute in so kurzer Zeit erzeugen konnte, zeigt, wie wichtig die Orientalistik auch für die Praxis des Lebens geworden ist.

Aber geschäftliche Lokalkenntnis, dienstliche Routine und sprachlicher Drill sind doch nur die subalternen Äußerungen der großen modernen Bewegung zum Orient hin. Wirklich vorwärts wird uns nur eine wissenschaftlich objektive Erforschung der Welt des Ostens bringen. Die neuen Aufgaben fordern gebieterisch eine neue Bildung. Diese hat aber eine wissenschaftliche Pionierarbeit zur Voraussetzung, die sich von praktischen Zwecken frei hält, ohne deshalb gleich die Fühlung mit dem Leben zu verlieren. Das historische Ganze des Orients gilt es zu erschließen. Hier ist unsere neue Welt nicht nur nach der kapitalistischen Seite orientiert. Wie ein Rückschlag der tieferen menschlichen Bedürfnisse gegen die Materialisierung und Merkantilisierung unserer Zeit mutet es an, daß das religiöse Interesse sich bei uns in zahlreichen Formen wieder ebenso regt wie in der Zeit der ausgehenden Antike. Auch wir richten den Blick nach dem Osten, nicht um die Mysterien Persiens und Babyloniens begierig uns anzueignen, sondern um die dichten Schleier von unserer eigenen Religion und ihrem historischen Werdegange zu lüften. Wohl hatte sich die Assyriologie längst zu einer anerkannten Wissenschaft entwickelt, aber erst die Bibel-Babelfrage hat sie aktuell werden lassen.

Der Bibel-Babelstreit war nur eine populäre Episode in dem großen geistigen Ringen der Wissenschaft um die Wiedererweckung des alten Orients. Dankbar wird es die Geschichte dieser Disziplin anerkennen, wieviel Förderung sie dem lebendigen archäologischen Interesse des Kaisers verdankt. Als Protektor der Deutschen Orient-Gesellschaft hat er diesen Bestrebungen direkt und indirekt die Wege geebnet. Assyriologie und Ägyptologie

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1184. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/55&oldid=- (Version vom 14.9.2022)