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jene erste Klasse der über sie Hinausgewachsenen für sich zu gewinnen, weil das an ihrer Überlegenheit und ihrem Persönlichkeitswillen doch scheitern würde, so muß sie sich um so mehr Mühe geben, das Gros der Gleichgültigen in der Mitte für sich zu gewinnen und bleibend um ihre Fahne zu sammeln. Darin besteht die agitatorische Aufgabe der politischen Parteien und das versteht man unter der schon einmal genannten „Politisierung“ des Volkes, die also zunächst nichts anderes ist als der Ausdruck für den Expansionstrieb der einzelnen Parteien und für den Wunsch und Versuch derselben, ihre Stammrollen möglichst zu vermehren. Daß in dieser Parteiarbeit auch ein gut Teil staatsbürgerlicher Erziehung steckt, dürfen wir freilich nicht vergessen: das ist der Gewinn, den die Öffentlichkeit vom Parteileben hat.

Jener Stamm ist es nun, der als geschlossene Partei zwischen den beiden Extremen in der Mitte steht und sozusagen die Cadres bildet für die Wahlkämpfe und Wahlschlachten. Und er gliedert sich dann in den einzelnen Städten und Bezirken in politische Parteivereine, die in ruhigen Zeiten meist ein stilles und mehr oder weniger tatenloses Leben führen, in erregten Zeiten aber, vor allem in den Wochen und Tagen vor den Wahlen das öffentliche Leben in sich konzentrieren und die deutsche Welt mit Waffenlärm und Kriegsgeschrei erfüllen. Daß dabei die Zahl der politischen Parteien bei uns in Deutschland eine so große ist, hängt aber doch wieder mit jenem germanischen Individualismus zusammen, auf dem kulturell unsere Stärke, politisch so lange Zeit unsere Schwäche beruht hat. Die Parteizersplitterung ist kein Glück, weder für die Parteien selbst, die dadurch nie stark genug sind, um für sich allein ihren Willen durchzusetzen, noch für die Regierungen, die im Reichstag und in den Einzellandtagen vielfach auf Zufallsmehrheiten angewiesen sind. Wie in den Stichwahlen, so sind auch in den Parlamenten Koalitionen und Kompromisse nötig, an denen ihrer Unnatürlichkeit wegen häufig niemand eine Freude hat. Und doch liegt darin auch wieder etwas Gutes: ein eigentliches Parteiregiment und eine Parteiregierung ist dadurch unmöglich, und für den Staatsmann muß es, wie eine besondere Kunst, so eine ästhetische Freude sein, immer neu kombinieren und stets eine mittlere Linie suchen und finden zu müssen.

Vier Hauptparteien.

Immerhin zeigt sich, wenn ich recht sehe, ein Zug zur Vereinfachung und zur Beseitigung der allzu kleinen Parteien und Parteisplitterchen auch bei uns. Vier Hauptparteien werden für absehbare Zeit immer bleiben: neben den Konservativen und den Liberalen, sozusagen den beiden legitimen und normalen Parteien des politischen Lebens überhaupt, das Zentrum, das als politische Partei die Interessen und Forderungen der deutschen Katholiken vertritt und so in eigenartiger Verschlingung kirchlich und politisch zugleich ist, und die Sozialdemokratie, die Vertreterin des vierten Standes, die ähnlich wie das Zentrum, ein doppeltes Ziel verfolgt, das politische der schrankenlosen Demokratisierung von Volk und Staat, den sie sich nur als Republik denken kann, und auf wirtschaftlichem Gebiet als Standes- und Klassenpartei die Besserung der Lage der Arbeiterklasse mit Hilfe der Gesetzgebung, eine Arbeiterpartei also, die freilich nicht alle Handarbeiter und nicht bloß Handarbeiter umfaßt. Daß Liberale und

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1672. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/543&oldid=- (Version vom 12.12.2020)