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frei bin oder von denen ich mich nur gewaltsam und unter Schmerzen loslösen kann. Sohn und Enkel, Gemeindeglied und Staatsbürger, Katholik oder Protestant, das bin ich ohne, zuweilen selbst gegen meinen Willen. Dagegen ob ich einem Verein beitreten oder nicht beitreten, einen Verein gründen oder nicht gründen will, das steht bei mir, der Zwang dazu ist höchstens einmal ein moralischer und nur in ganz engen Verhältnissen meiner Wahl und meiner Freiheit überhaupt entzogen. Dem Kegelklub „Alle neune“ nicht beizutreten oder wieder aus ihm auszutreten, ist Sache meines Beliebens, und es gehört selbst im kleinsten und engsten Landstädtchen nicht eben viel Mut dazu. So zeigt sich der Individualismus nicht im Gegensatz zu, sondern gerade recht in und auf dem Gebiet des freien Vereinslebens, und wenn dieses bei uns besonders vielgestaltig entwickelt ist, so widerspricht das nicht, sondern entspricht durchaus dem deutschen Individualismus und dem germanischen Freiheitswillen.

Politische Parteibildung.

Springen wir aber von dem indifferenten Kegelklub hinüber zur politischen Vereins- und Parteibildung, so tritt hier die Beziehung zum öffentlichen Leben und ihre Bedeutung dafür ganz anders deutlich in die Erscheinung. Die Stimmen, die bei den Reichstagswahlen für die einzelnen Parteien abgegeben werden, sind freilich nicht ohne weiteres Stimmen der betreffenden Parteiangehörigen, der ausdrücklich bei ihnen eingeschriebenen Mitglieder. Bei der Sozialdemokratie redet man besonders gern von „Mitläufern“; aber jede Partei hat ihre Mitläufer, es gibt Tausende und Abertausende, die keiner politischen Partei angehören und die dann wieder in solche zerfallen, die trotzdem regelmäßig mit derselben Partei stimmen und in andere, die nicht einmal das tun, sondern heute sozialdemokratisch und morgen liberal, heute konservativ und morgen fürs Zentrum wählen. Von diesen stehen einzelne sozusagen über den Parteien, sie sind über alle Parteieinseitigkeit und -enge hinausgewachsen und wollen sich deshalb keiner Partei anschließen, sondern wählen jedesmal, wenn sie zu wählen haben, das kleinere Übel, wie man zu sagen pflegt, oder noch lieber: die bedeutendste und charaktervollste Persönlichkeit, auch wenn deren politische Anschauungen nicht durchaus im Einklang sind mit den ihrigen. Andere aber – und das wird die Mehrzahl dieser Mitläufer sein – haben nicht so viel politisches Interesse, vielleicht auch nicht so viel politisches Verständnis, um sich dauernd am politischen Leben zu beteiligen: sie besuchen in Wahlzeiten die eine oder andere Versammlung, hören mehrere oder vielleicht auch nur den ihnen zum voraus schon genehmsten Kandidaten und geben ihm ihre Stimme, damit ist für fünf Jahre ihr politisches Interesse erschöpft und befriedigt. Endlich aber – und das sind die Schlimmsten – sind manche aus irgendwelchen Rücksichten und Geschäftsinteressen zu feige, um sich einer Partei offen anzuschließen, obwohl sie ihr innerlich angehören, oder sind heute gerade verärgert und verstimmt und schlagen sich daher für dieses Mal zur radikalsten Opposition; sie verlassen sich auf das geheime Abstimmen, wobei man wählen kann und darf, wie man es aus irgendwelchen Gründen offen nicht wagen würde und nicht verantworten möchte. Ist an diesen Feiglingen oder Temperamentspolitikern keiner Partei allzuviel gelegen, sollte es wenigstens nicht sein, und muß die Partei darauf verzichten,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1671. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/542&oldid=- (Version vom 12.12.2020)