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jede Nuance und Richtung innerhalb einer Partei ihr besonderes Organ hat, und so alle Parteien und Richtungen zu Wort kommen, und daß deshalb das, was die Zeitungen der einen Richtung verschweigen oder übergehen, von den andern mitgeteilt und geflissentlich zugunsten der eigenen und zu ungunsten der fremden Partei hervorgehoben wird. Wer daher täglich mehrere Zeitungen von verschiedenen Parteirichtungen liest, der erst bekommt ein Bild des Ganzen; und wer sie mit politischem Verständnis liest, wird dann in den Urteilen der einzelnen Parteiblätter leicht erkennen, wieviel davon allgemeingültig, wieviel und was dagegen mit der Parteibrille gesehen und durch das Parteisieb festgehalten oder ausgeschieden worden ist. Aber freilich, wie viele lesen viele, lesen mehr als eine, ihre eine Zeitung und lesen Zeitungen verschiedener Richtungen? Und wie viele vermögen zwischen den Zeilen das Wahre und das Richtige herauszulesen? an der Kritik der Zeitungen ihrerseits Kritik zu üben? Daher der große, der fast allmächtige Einfluß, den die Zeitung auf die Urteilsbildung der meisten Menschen ausübt. Viele übernehmen ihr politisches Urteil und ihre politischen Anschauungen einfach fertig von der von ihnen gehaltenen und regelmäßig gelesenen Zeitung; und auch wer sich dagegen sträubt, steht doch mehr oder weniger unter ihrem Einfluß. Verstärkt wird dieser noch durch die in Deutschland übliche Anonymität gerade auch der politischen Artikel und Leitartikel: die Kölnische Zeitung sagt es, das ist für die Mehrzahl ihrer Leser fast so maßgebend, wie für die Pythagoreer das αὐτὸς ἔϕα ihres Meisters; wenn es ihnen als das Elaborat eines Herrn Müller oder Schulze entgegenträte, würden sie sich weniger davon beeinflussen lassen und sich nicht so ohne weiteres der Autorität des gedruckten Werkes unterordnen: die Kölnische oder die Frankfurter Zeitung ist eine Macht, Herr Klein oder Herr Frank wäre keine. Das ist die suggestive Wirkung der Presse, der sich keiner von uns entziehen kann. Auch wenn wir uns kritisch verhalten wollen und meinen, kritisch zu sein, so entdecken wir nach einiger Zeit, vielleicht zu unserem Schrecken, wie energisch sich die Assoziationen zwischen den Ereignissen und dem Zeitungsurteil bei uns festgesetzt haben und wie stark das letztere auf uns abgefärbt hat; wir wissen nicht mehr, daß die Urteile, die wir fällen, nicht die unsrigen, sondern Urteile unserer Zeitung sind.

Verantwortlichkeit der Presse.

Daher ist auch die Verantwortung und Verantwortlichkeit der Presse eine außerordentlich große. In der äußeren Politik macht sie weit mehr Krieg oder Frieden als die offizielle Diplomatie, indem sie die Volksleidenschaft entfesselt oder beschwichtigt, den Samen der Zwietracht zwischen den Völkern sät oder eine friedliche Stimmung verbreitet; in ihr schwingen ja vor allem jene Imponderabilien mit, auf die im Verhältnis der Völker zueinander soviel ankommt. Deshalb ist es für die leitenden Kreise wichtig, nicht bloß aufmerksam zu hören auf das, was die Presse sagt, sondern auf diesem Instrument auch ihrerseits spielen zu können, um dadurch auf Inland und Ausland einzuwirken, für eine kräftige Aktion nach außen die nötige Resonanz und das Verständnis im eigenen Volk zu schaffen oder durch kalte Wasserstrahlen den Nachbarvölkern rechtzeitig den Ernst der Situation zu Gemüt zu führen. Der große Staatsmann muß heute auch ein großer

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1665. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/536&oldid=- (Version vom 12.12.2020)