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Aufdringlichkeit auch schon im Interesse der Ethik und der Ästhetik die Öffentlichkeit in die Schranken ruft, in der Zeitung ihren Hauptsitz. Und auch hier stecken in dem Monopolisieren und Ausschließen, im offenen oder versteckten Gelegenheitgeben und Gelegenheitsuchen zu allerlei Unsittlichem mancherlei Schäden und Gefahren, die die Öffentlichkeit angehen. Doch wird hier das Schlimmste immer schon durch das Interesse des Blattes selbst und durch die Kontrolle der Konkurrenten verhütet, und dadurch das Verantwortlichkeitsgefühl der Leiter des Annoncenteils wach gehalten.

Das zweite, was die Zeitung durch ihre Mitteilungen reguliert, sind die Weltmarkts- und Weltverkehrsverhältnisse; und hier steht sie bereits im Dienst des öffentlichen Lebens, das an der Preisbildung der Waren, am Stand der Papiere, am Kredit der Staaten und der großen industriellen Unternehmungen und Banken aufs intensivste mit interessiert ist. Seitdem Deutschland ein großer Industriestaat und auf dem Weltmarkt der große Konkurrent für die anderen Staaten geworden ist, ist der Handelsteil einer Zeitung für den, der ihn zu lesen versteht, nicht bloß für sein eigenes Geschäft, sondern für unsere ganze Machtstellung in der Welt vom größten Interesse: neben Fürsten und Diplomaten haben heute auch Großindustrielle und Banken in Rüstungsfragen ein gewichtiges Wort mitzusprechen und über Krieg oder Frieden mit zu entscheiden.

Endlich die dritte Aufgabe – die Zeitung als Übermittlerin von Neuigkeiten aller Art und, damit zusammenhängend, als Leiterin der öffentlichen Meinung durch Festsetzung des Urteils über das Geschehene und das Geschehende und künftig zu Tuende. Gerade diese Seite, aus der das Zeitungswesen überhaupt erst herausgewachsen ist und seinen Namen bekommen hat, hat in den letzten Jahrzehnten die gewaltigste Ausdehnung erfahren durch die Forderung und die Befriedigung der Forderung größtmöglicher Schnelligkeit bei Übermittlung der Nachrichten mit Hilfe von Telegraph und Telephon und durch das Netz von Korrespondenten, das große Zeitungen über die ganze Welt hin ausgebreitet haben; bei wichtigen Vorkommnissen, bei Kriegen oder Unglücksfällen, bei Festen und Kongressen müssen besondere Berichterstatter zur Stelle sein und – für die Beteiligten selbst erwünscht oder unerwünscht – ihrer Zeitung prompteste Nachrichten zukommen lassen. Diese staunenswerte Schnelligkeit und Allseitigkeit des Nachrichtendienstes und die damit parallel gehende Ungeduld des auf Nachrichten wartenden Publikums ist es vor allem, was unser Leben gegenwärtig so hastig, so unruhig, so nervös macht; und doch, wer von uns wollte und könnte das heute noch entbehren?

Für diese aus der ganzen Welt zusammenströmenden Nachrichten bildet nun die Redaktion jeder großen Zeitung sozusagen die Sammelstelle, die die Nachrichten auszulesen, zu sichten, auf ihre Wahrheit hin zu prüfen, also an ihnen Kritik zu üben hat. Dabei ist die erste Frage: was ist wichtig? und wir staunen doch oft, welche Lappalien für wichtig genug befunden werden, um sie über die ganze Welt hin mit der Schnelligkeit des elektrischen Funkens zu verbreiten. Dieses Interesse für alles Mögliche, neben Wichtigem auch für ganz Unwichtiges, wird durch die Zeitung aber nicht bloß befriedigt, sondern vielfach erst geweckt. Ein Zunehmen der Neugier, die den Geist nicht sammelt, sondern zerstreut und verflacht, ein Verlangen nach Sensationellem, das gelegentlich auch noch

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1663. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/534&oldid=- (Version vom 12.12.2020)