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das Resultat der ganzen Verfassung, Gesetzgebung und des allgemeinen Zustandes überhaupt in Form des gesunden Menschenverstandes als der durch alle in Gestalt von Vorurteilen hindurchgehenden sittlichen Grundlage, sowie die wahrhaften Bedürfnisse und richtigen Tendenzen der Wirklichkeit; aber freilich auch die ganze Zufälligkeit des Meinens, seine Unwissenheit und Verkehrung, falsche Kenntnis und Beurteilung“. In dieser öffentlichen Meinung brodelt und quirlt alles durcheinander, was im Volke gefühlt, gedacht, gewollt wird, als ein Durcheinander, das nur in seltenen Momenten von selbst zur Klarheit und zur Einmütigkeit kommt. In seltenen Momenten, vielleicht am meisten in Zeiten der Not, in Kriegszeiten vor allem. Wir dürfen ja nur zurücksehen auf die Tage von 1813 oder auf die uns noch näher liegenden Jahre 1870 und 1871, wie da aller Herzen zusammenschlugen und aller Wille auf ein großes Ziel sich streckte und straffte, aller Gedanken dem einen Vaterland galten; verschwunden war der kleine Egoismus der einzelnen, die Selbstsucht der Familien und Stände, der feindselig trennende Partikularismus der deutschen Stämme: wir waren nie besser, nie größer und einiger als in jener weltgeschichtlichen Stunde unseres Volkes. Darin zeigt sich zugleich das Erhebende und Reinigende des Kriegs, der wirklich alles zum Ungemeinen erhebt. Oder wie war’s beim Untergang des ersten Zeppelinluftschiffes bei Echterdingen, den wir als ein uns alle gleichmäßig treffendes nationales Unglück empfanden und den gutzumachen darum auch alle in Opfermut und Einmütigkeit gewetteifert haben? Aber das sind Ausnahmezeiten und Ausnahmeereignisse. Für gewöhnlich weiß die öffentliche Meinung selbst nicht, was sie meint und will und vor allem nicht, was sie meinen und wollen soll. Daher muß es ihr gesagt werden. Und das geschieht – wieder ausnahmsweise – durch die großen Männer der Weltgeschichte. „Wer, was seine Zeit will, ausspricht, ihr sagt und vollbringt, ist der große Mann der Zeit. Er tut, was das Innere und Wesen der Zeit ist, verwirklicht sie; aber“, fügt Hegel weise und tapfer hinzu, „wer die öffentliche Meinung, wie er sie hier und da hört, nicht zu verachten versteht, wird es nie zu Großem bringen.“ In gewöhnlichen Zeiten aber, wo es der öffentlichen Meinung an Klarheit und Einmütigkeit fehlt und der große Mann nicht da ist, der ihr zum Bewußtsein bringt, was sie will und wollen soll, ist das Parlament ihr Sprachrohr, und ihr normales Organ.

Ein Demokratisches ist nun freilich eine Vertreterversammlung, auch wenn sie durch das allgemeine und gleiche Wahlrecht zusammenkommt, so eigentlich nicht, sondern ein ganz Aristokratisches: die Auslese der Besten soll jedes Parlament sein. Und was im Parlament zur Aussprache kommt, ist vielfach nicht das uns Einigende, sondern gerade umgekehrt das, was uns trennt. Nie tritt dieses deutlicher ins Bewußtsein als bei den Wahlkämpfen zu Reichstag, Landtag, Gemeinderat, nirgends wird es lauter zu Gehör gebracht als in Wahlversammlungen und in den auf Grund dieser Wahlkämpfe zustande gekommenen Vertretungskörpern, in denen diese Kämpfe fortgesetzt werden. Unser Volk soll „politisiert“ werden! Das ist eine Forderung, ein Wunsch, der neuerdings oft und laut genug ausgesprochen wird; und gewiß ist es ein Ziel, dem wir zustreben müssen; denn es ist nichts anderes als die Erziehung des Volkes zu staatsbürgerlicher Gesinnung, die Bildung für die Staatsinteressen überhaupt. Sieht man aber genauer zu, so heißt

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1660. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/531&oldid=- (Version vom 4.8.2020)