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Element und der stetige Sieg des ersteren über das zweite. So wie sich die oberen Zehntausend heute kleiden, kleiden sich morgen, um es ihnen gleichzutun, die Millionen aller anderen. Aber weil die Mode der oberen Zehntausend diesem demokratischen Zug nicht folgen, diesem Kleidernivellement sich nicht fügen will, so ist schon übermorgen die Mode von heute außer Mode, die Mode der Oberen schon wieder eine andere, und darum die Hetzjagd, der ewige Wechsel und vor allem auch das wunderliche Umschlagen von einem Extrem zum andern, von Michelangelo zum Barock, vom Barock zum Rokoko, vom Rokoko zum Empire, vom Empire zum Biedermeierstil, von der glockenförmigen Krinoline zu dem kläglich und häßlich den Schritt verschränkenden Humpelrock.

Und nun gleich zum anderen ernsthafteren Ende, zum allgemeinen und gleichen, direkten und geheimen Wahlrecht! Es ist durch und durch demokratisch, denn es macht die Stimme des ärmsten Arbeiters und des hinterwäldlichsten Bauern gleichwertig mit der des ersten Ministers oder des weltberühmten Erfinders oder des gefeiertsten Künstlers; Bildung und Unbildung, Besitz und Besitzlosigkeit, Dummheit und Verstand – an der Wahlurne macht das keinen Unterschied, hier werden die Stimmen gezählt und nicht gewogen. So wirkt es zunächst nur erschrecklich nivellierend und uniformierend und kommt dadurch, in eigenartiger Wechselbeziehung, auf dasselbe hinaus, wie der scheinbar gar nicht demokratische Militarismus. Und doch – die Begriffe „Volksheer“ und „allgemeine Wehrpflicht“ zeigen es schon an – wirkt auch er wie das allgemeine gleiche Wahlrecht nach derselben Richtung hin – uniformierend und demokratisierend, weil vor der Uniform und in der Uniform alle gleich sind und diese alle zu Kameraden macht. Wir sind alle Wähler und sind alle Soldaten: nur daß bei den letzteren allerdings der Einjährig-Freiwillige sich den Vorzug von Bildung und Besitz doch nicht ganz nehmen läßt, weshalb die radikale Demokratie diese Einrichtung völlig beseitigen und eine gemäßigtere Richtung derselben sie gerade umgekehrt erweitern und auf tiefere Schichten ausdehnen, also demokratischer machen möchte.

Volksführer.

In der Parallele zwischen Demokratie und Militarismus liegt aber auch eine Forderung und Mahnung an die erstere. Wie das Heer nichts ist ohne Offiziere, so braucht auch die Demokratie ein aristokratisches Element, sie braucht „Demagogen“, d. h. Volksführer. Die größte Zeit der athenischen Demokratie war doch die, wo Perikles der unbestrittene Führer seines Volkes war, oder in Rom die Zeit Cäsars, der seinen großen Namen zur allgemeinen Bezeichnung für den Herrscher eines großen Volkes und Staates gemacht und dieser Art von Führung seines Geistes Stempel für Jahrtausende aufgedrückt hat. Nach Führern suchen daher auch wir auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens und sehnen uns nach solchen. Es ist bezeichnend, daß in keiner Partei die politischen Führer so persönlich genommen und so fast gar byzantinisch verehrt werden, wie in der demokratischen – sowohl der sozialdemokratischen wie der bürgerlichdemokratischen, und daß jedes Rühren und Tasten an ihrer geheiligten Person dem Außenstehenden so übel genommen, jeder Tadel eines solchen vergötterten „Demagogen“ geradezu für „unverzeihlich“ erklärt wird. Darin steckt zugleich der unverwüstlich monarchische Zug unseres deutschen Volkes, die Männertreue der Gefolgschaft, die schon Tacitus aufgefallen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1657. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/528&oldid=- (Version vom 4.8.2020)