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vor hundert Jahren, wo uns die Aufklärung duldsam gemacht und ihre dogmatische Indifferenz uns einander näher gebracht hatte. Heute sind wir nicht nur konfessionell weiter auseinander als damals, auch innerhalb der Konfessionen sind, namentlich auf protestantischer Seite – doch nicht auf ihr allein – die Gegensätze schroffer und bewegen sich auch hier von einer äußersten Rechten durch alle möglichen Parteien und Parteischattierungen hindurch bis hinüber zu einer nicht minder extremen Linken. Und auch unsere sittlichen Anschauungen gehen vielfach weit genug auseinander. Diese religiöse Zerklüftung beklagt man meist, als wäre sie nur ein Unglück, und ein Unglück ist sie gewiß auch; aber übersehen darf man doch nicht, in welchem Maße sie, ähnlich wie der Partikularismus, die Geister wach gehalten und im nie ruhenden Kampf geschärft hat. Auf deutschem Boden gibt es deswegen auch für die Kirchen und für die religiösen Menschen kein Erstarren und Verkalken, der Gegensatz hält uns alle in Atem und lebendig.

Suchen nach einheitlicher Weltanschauung.

Und auch hier ist die Folge, daß wir mehr Suchende sind als solche, die ein Fertiges an Welt- und Lebensanschauung schon gefunden hätten und haben. So fehlt unserer Sitte freilich der sichere religiöse Hintergrund, den sie bei den Griechen hatte – man denke an das Agonale, an die Olympischen Spiele und ähnliche im Namen der Götter bestehenden und durch sie geweihten Einrichtungen und vergleiche sie mit unseren Wettrennen und unserem ganzen nur utilitaristisch zu begründenden Sporttreiben. Aber wenn mich nicht alles täuscht, so ist bei uns wenigstens das Sehnen nach einer einheitlichen Weltanschauung allgemein, und das gibt unserer Zeit wiederum den zwar unruhigen, aber doch gemeinsamen und einheitlichen Grundzug, wie er neben Religion und Weltanschauung auch in unserer Poesie und Literatur zutage tritt. So kann man auch da paradox sagen, in unserem Kampfe und in unserer Zerrissenheit selbst liege das Gemeinsame und uns alle Einigende, in dem scheinbaren Mangel die Kraft unseres modernen Lebens, die Lebenskraft der Ruhe- und Rastlosigkeit, des ewigen Unbefriedigtseins und des Vorwärts- und Aufwärtsdrängens, das unserem deutschen Volk heute so entschieden das Aussehen einer nicht stagnierenden und auf alten Lorbeeren ausruhenden, sondern einer im Fortschreiten begriffenen, voranstrebenden und vorankommenden Nation gibt. Das ist die Signatur Deutschlands unter Kaiser Wilhelm II.

Demokratisierung des ganzen Lebens.

Neben dieser Eigenschaft des Suchens, die unserem ganzen öffentlichen Leben von der Politik mit ihrem expansiven Imperialismus und dem Wirtschaftsleben mit seinem immer neue Absatzgebiete suchenden Welt- und Wettbewerb, bis zu der nach einem neuen Stil und nach Stil überhaupt Ausschau haltenden Kunst oder dem um eine Zukunftsreligion sich mühenden Monistenbund und internationalen Religionskongreß ihren Stempel aufdrückt, fällt uns eine andere Seite als unserem ganzen Leben gemeinsam in die Augen, die demokratische. Wenn Ihering recht hatte mit dem paradoxen Wort, daß die Mode die Hetzjagd der Standeseitelkeit sei, so zeigt sich in ihr am äußerlichsten, aber auch am sichtbarsten der stetige Kampf des demokratischen mit dem aristokratischen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1656. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/527&oldid=- (Version vom 4.8.2020)