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keine Sitte mehr, wie wir eine von heute zu morgen wechselnde Mode, aber keine stabile und dauernde Tracht mehr haben. Scheinbar ist das ein großer Verlust, daß uns dieser tragende Hintergrund und dieser feste Halt, den Volk und Staat an der Sitte haben, abhanden gekommen ist, und ist doch in Wahrheit ein Fortschritt, wie alles Differenzieren ein Fortschreiten und ein Verfeinern ist. Aus dem mütterlichen Schoß des Nomos, wie einst aus dem der Kirche und der Religion, haben sich bei uns die einzelnen Lebensgebiete vom Ganzen abgelöst, und gehen nun, sich gegeneinander immer bestimmter abgrenzend, mehr oder weniger selbständig ihren eigenen Weg und führen ihr eigenes Sonderleben. Man nehme die Kunst eines Pheidias und halte sie zusammen mit unserer heutigen Kunst und ihren Vertretern, und man sieht, wie diese so gar nicht mehr zum öffentlichen Leben zu gehören scheint und wie sie darum auch alle Einheitlichkeit verloren hat, in den Wirbel der Meinungs- und Geschmacksverschiedenheiten hineingerissen ist und ihre Vertreter aus lauter Suchenden bestehen; und wie vielleicht gerade deswegen die Künstler unserer Art am meisten entsprechen, die am energischsten suchen und die Unruhe des Suchens am lebhaftesten in ihren Werken zum Ausdruck bringen. Es hängt das schon äußerlich zusammen mit dem ganzen modernen Leben, das unter dem Zeichen des Verkehrs stehend das Volk nicht mehr in der alten Weise seßhaft werden, in seiner Heimat nicht zur Ruhe kommen läßt: vom Land strömt es herein in die Großstädte, die zu Riesenstädten anschwellen, und in ihnen tritt dann an die Stelle einer festen und einheitlichen Sitte die Großstadtluft mit ihrem Schwanken und Wanken, mit ihrem gegenseitigen Fremdsein und Fremdtun und ihrem kaum den Tag überdauernden Interesse für Modeberühmtheiten und dem Flackerfeuer einer rasch vorbeihuschenden Modebegeisterung. Auf dem Land und in den kleinen Städten ist es anders; aber wenn da noch eine Sitte existiert, so ist sie doch gerade hier deswegen nicht der Ausdruck des öffentlichen Lebens, weil ein solches in ihnen überhaupt wenig kräftig entwickelt und von den engsten Privatinteressen überwuchert und erstickt ist. In unserem großen Staat und Reich ist das Stilleben der Kleinstadt, selbst wenn es von einer einheitlichen Sitte getragen wird, kein öffentliches Leben.

Die Sitte unfaßbar.

Aber noch aus einem anderen Grunde ist eine Darstellung der Sitte schwer möglich. Auch da, wo sie existiert und gerade da, ist sie ein Fluidum, das uns umgibt wie die Luft unsern Körper, von dem wir aber ebensowenig Bewußtsein haben, wie von dieser. Gewiß gibt es auch unter uns noch Sitten, durch die wir vom Morgen bis zum Abend in unserer Wohnung und Kleidung, in unserer Arbeits- und ganzen Lebensweise gehalten werden und die uns eine Menge Arbeit und eigenen Nachdenkens über das, was zu tun ist, abnehmen und ersparen. Allein nur, wo wir fremder Sitte gegenübergestellt werden, werden wir uns dieser eigenen einheimischen Landessitte gelegentlich einmal bewußt; im großen ganzen bemerken wir sie nicht, gerade in diesem Nichtmerken besteht ja mit ihr Wert: wir tun, weil und was wir nicht anders können, weil und was uns zur zweiten Natur geworden ist; die Gewohnheit und Gewöhnung daran hat das Bewußtsein erst abgestumpft, dann ganz weggenommen. Daher sind diese Sitten mehr nur privater Natur;

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1654. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/525&oldid=- (Version vom 4.8.2020)