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Kirchengeschichte von der Reichsgeschichte. Grade auf dem Gebiete der Religionsforschung entfaltet sich, angeregt namentlich durch Hermann Usener, eine große Rührigkeit. Einerseits wird der Kultus und die religiös bestimmte Sitte nach allen Seiten durchforscht und durch Vergleichung mit fremden, namentlich primitiven Erscheinungen erläutert, was dann der Frage nach dem Ursprung der Religion zugute kommt. Andererseits werden die Unterströmungen verfolgt, welche infolge der Kulturmischung des Hellenismus zu der Abkehr von den alten nationalen Kulten und dem Drängen nach einer neuen, der Einzelseele Erlösung schaffenden Religion führen. Wohl fassen wir sie meist erst in der Kaiserzeit, in der kleinasiatische, semitische, persische Götter namentlich durch das Heer überall hindringen. Allein das liegt an unserer Überlieferung. Und diese gestattet die pythagoreische Bewegung und die so ungemein wichtige Astrologie (die eigentlich erst in den letzten Jahren entdeckt ist) bis in das 2. Jahrhundert v.Ch. zu verfolgen. Vor allem aber ist in dem Syrer Poseidonios ein Philosoph ganz kenntlich geworden, der einerseits an Platon und Aristoteles in seiner tiefen und weiten Wissenschaft anknüpft, andererseits eine religiöse Stimmung in vollen Tönen erklingen läßt, die dem edelsten semitischen Monotheismus wesensverwandt ist. Dem Poseidonios hat die erfolgreiche Arbeit am meisten gegolten, doch ist es noch nicht an der Zeit, seine gesamte Hinterlassenschaft zu sammeln, wie es für Epikur und die alte Stoa erreicht ist; noch läßt sich seine Nachwirkung nicht genügend übersehen. Die Aristoteleskommentare ermöglichen ja erst das Eindringen in die Philosophie der Kaiserzeit, eine große Aufgabe der Zukunft, die auch das christliche System einbeziehen wird.

Die Medizin ist von allen naturwissenschaftlichen Disziplinen des Altertums am besten kenntlich, greift auch zu allen Zeiten in die allgemeine Naturwissenschaft und Philosophie über. Wenn auch das Fundament zu ihrer Rekonstruktion erst gelegt wird, so sind doch bedeutende Ergebnisse auch für die Zeiten ihres Werdens und ihrer Blüte bereits gewonnen, und dasselbe gilt für die meisten naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen, vorab die wichtigste von allen, die Mathematik, aber auch z. B. für die Botanik. Besonders erfreulich ist, daß das Zusammenarbeiten des Philologen und Technikers die Haupträtsel der antiken Geschütze gelöst zu haben scheint: solche Arbeitsgemeinschaft wird noch viel erreichen.

Da die Römer keine Wissenschaft gehabt haben, kommt ihnen die Arbeit auf allen diesen Gebieten nur mittelbar zugute. Aber dafür springt die Bedeutung des spezifisch Römischen erst recht in die Augen, wenn sie sich an der griechischen Folie abhebt. Das römische Recht bleibt römisch, und sein Wert wächst, grade wenn man die Volksrechte daneben stellt, wie es den großen Juristen nur zugute kommt, daß die Gegenwart ihre Schriften von den Interpolationen der Byzantiner befreit. Plautus, der der vorigen Generation nur ein Sprachdenkmal war, ist als Dichter entdeckt und hat nur gewonnen, seit Menander wieder da ist. Cicero und Vergil sind uns wieder wahre Größen; ihre Verkennung war kein Ruhm der deutschen Philologie und Historie. In der Ara Pacis, die von unserem römischen Institut untersucht ist, haben wir nun genau denselben Geist der großen Augusteschen Zeit, wie in den Liedern des Horatius. Augustus, den Mommsen verkannte, hat seinen verdienten Platz gefunden. Man hat aufgehört, in der Kunst der

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1181. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/52&oldid=- (Version vom 15.9.2022)