Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 3.pdf/471

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Der kühne Mut dieses Mannes setzte zunächst alle Welt in Verblüffung. In Frankreich und Belgien, besonders aber in Deutschland, wo schon Otto Eckmann, Obrist und andere das radikale Ziel auf anderem Wege zu erreichen suchten, fanden sich begeisterte Anhänger seiner Lehre. Schien doch der Beweis erbracht, daß man wirklich etwas Modernes schaffen könne, ohne beständig Anleihen bei der Vergangenheit machen zu müssen. Vor allem aber war der Gedanke begeisternd, daß man es nicht mehr nötig hatte, in mühevollem Studium sich die schwierige Wissenschaft der Stillehre anzueignen. Man konnte ja seine Formen selbst erfinden, und jedermann war hierzu imstande, um so mehr als Schwierigkeiten hinsichtlich der Ausführbarkeit nicht zu bestehen schienen. Die Schranke zwischen dem fachgebildeten Zünftler und dem Laien schien endlich gefallen. Wie man annahm, hatte sie viel zu lange und mit völligem Unrecht bestanden.

Zunächst begannen alle diejenigen sich der neuen Bewegung zu bemächtigen, die sich bereits mit künstlerischen Vorwürfen beschäftigt hatten, aber bei der herrschenden Überproduktion von dem Weiterverfolgen der ausgetretenen Geleise nicht viel versprachen. In erster Linie die Maler, deren Phantasie durch die schrankenlosen Ideen eine gewaltige Anregung erhielt. Vielleicht war das treibende Element nicht allein die Lust, den Farben- und Formensinn auf einem bis dahin noch nicht betretenen Gebiet zu erproben. Es spielte wohl auch etwas von der Vorstellung hinein, als wäre nun die Zeit gekommen, den verloren gegangenen innigen Zusammenhang unter den Künsten wiederherzustellen. Das Galeriebild war ja stets nur ein Notbehelf gewesen, mit dem man sich in Ermangelung anderer Aufgaben abgefunden hatte. Die Möglichkeit der Malerei, die frühere Machtstellung, die auf ihrer dekorativen Kraft beruhte, wiederzugeben und sie in engste Fühlung mit dem umgebenden Raum zu bringen, mußte als verlockende Verheißung erscheinen.

Noch auf der Berliner Gewerbeausstellung im Jahre 1896 war von dieser Bewegung, soweit sie das Kunstgewerbe direkt betraf, fast nichts zu spüren. Ein ernstes Bestreben nach neuem und selbständigem Ausdruck zeigte hier allein die Architektur, doch lag es wie eine Spannung in der Luft, die nur ihrer Auslösung harrte. Im selben Jahre wurden die illustrierten Wochenschriften „Jugend“ und „Simplizissimus“ gegründet, die die Träger der neuen Gedanken zu ihren Mitarbeitern zählten, und einen bis dahin in Deutschland noch nicht gekannten Typus der Illustrationskunst darstellten. Das zeitliche Zusammenfallen der Gründung dieser Zeitschriften mit dem energischen Einsetzen der Bewegung war die Ursache, daß man später dem neuen Stil, wenn auch ohne eigentlichen Grund, den Namen „Jugendstil“ gab.

Dresdner Kunstausstellung 1897.

Schon auf der Dresdner Kunstausstellung im Jahre 1897 konnten die ersten Resultate gezeigt werden, einige Zimmer, die dem neuen Programm entsprechend ein durchaus neuartiges Aussehen hatten. In ihnen war das Bemühen unverkennbar, von dem Schema des üblichen Miethauszimmers abzuweichen und den Raum seiner Bestimmung entsprechend, zugleich aber möglichst persönlich auszubilden. Allerdings konnte man der bisher gebräuchlichen romantischen Requisiten noch nicht entraten

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1600. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/471&oldid=- (Version vom 21.8.2021)