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dem schaffenden Künstler Ideen wiederklingen, an denen das ganze Volk mitgearbeitet hat. Der Monumentalmaler muß vor allen andern imstande sein, das Ohr an das Herz seines Volkes zu legen, um dessen starke Töne unmittelbar zu vernehmen. Aber weder die deutsche Mythologie, noch die antike Götter- oder Heroensage, noch die Großtaten einzelner Völkerstämme oder Männer längst versunkener Tage besitzen die Macht, im Künstler den Schöpfer erstehen zu lassen, der zu seinem Werke spricht: „Werde“. Ich will damit nicht in Abrede gestellt haben, daß in jenen Überlieferungen, namentlich in der Mythenwelt, höchste Menschheitswerte ruhen, welche der Versinnbildlichung in jeder Hinsicht würdig sind; aber sie sind bereits gefestigtes Eigentum unserer Kultur geworden, nicht von dem starken Atemzuge aus unseres lebenden Volkes Brust durchweht. Und große Helden vergangener Zeiten können wir immer nur gleich dem Geiste unserer eigenen Gegenwart schildern. Der darstellende Künstler muß in solchen Fällen trotz aller persönlichen Begeisterung zum Illustrator werden, und ein solcher ist niemals, selbst nicht in der Vollkommenheit, Herr der Monumentalität. Die große Zeit von 1870 hatte allerdings eine Reihe von bedeutenden, auch im äußeren Umfange hervorragenden Bildern gebracht, die als Spiegel und Chronik dieser gewaltigen Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeutung gelten müssen. Aber Persönlichkeiten wie Handlungen sind zu sehr gesättigt von den Impulsen der Gegenwart. Die Künstler waren gezwungen, auf dem Stande des Schilderers von Begebenheiten stehenzubleiben. Wir bedürfen, um zu einer in sich kernhaften Monumentalmalerei zu gelangen, großer vaterländischer Ideale, wie es die Kaiseridee gewesen ist, die ja als treibende Kraft in der ganzen profangeschichtlichen Historienmalerei des 19. Jahrhunderts gewirkt hat, aber einen unmittelbaren Ausdruck nicht hatte finden können. Wir brauchen also machtvolle, allseitig bewegende Ideen. Ob hier das „größere“ Deutschland, wie es sich in diesen 25 Jahren unter Kaiser Wilhelm II. entfaltet hat, mit den gewaltigen Erinnerungen an das letzte Jahrhundert, mit seinem überall erhöhten Ichbewußtsein, mit allen seinen zutage tretenden und noch halb verborgenen Aspirationen auf Weltstellung die befruchtende Kraft sein wird? Das unverkennbar immer stärker emporwachsende Bedürfnis nach Monumentalmalerei kräftigt solche Meinung; allerdings kämpft unsere Zeit besonders schwer um den Grundsatz, alle Kunst ist Symbol, da sie im tiefsten Herzen naturalistisch ist. Sie predigt, daß alle Kunst nur Sehen ist, während die Monumentalkunst alles Sein in eine zeitlose Sphäre entrücken, vom Alltage befreien muß.

Wenn nicht alles täuscht, möchte ich nochmals aussprechen, ist also unsere lebende Stunde im Begriff, für die neuzeitlichen Lebensgefühle in unserem Vaterlande einen Ausdruck in der Monumentalmalerei zu finden, welcher dem zwar realistisch gewandten, aber trotzdem von hohen weltbeherrschenden Idealen erfüllten Sollen unserer Tage entspricht. Unsere Wandmalerei ist offensichtlich bestrebt, einerseits aus dem unmittelbar Angeschauten, nicht aus einer mittels gelehrter Studien gewonnenen Welt ihren Stoff zu nehmen, andrerseits gewillt, der gestaltenden Phantasie, der Gefühlswelt ihr Recht ungeschmälert zu lassen. Diese frohe Hoffnung und Erwartung, daß unsere Maler einstmals als die Verkünder vorwärtsdrängender Ideale im deutschen Volke erkannt werden, erhält eine Stärkung durch das gleichartige Schaffen auf dem Gebiet der Schwesterkunst, der Bildhauerei.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1589. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/460&oldid=- (Version vom 28.9.2022)