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Geschichtschreibung überwiegend erfreulich entwickelt. Beträchtliche Verdienste erwirbt sie sich heute um die Aufklärung der vorreformationsgeschichtlichen Verhältnisse. Von der Zettelkastenmethode Janssens macht sie nur ausnahmsweise noch Gebrauch. An Bezolds Buch schließt sich zeitlich M. Ritters „Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges“ an, eines jener Werke der deutschen Wissenschaft, die das Lebenswerk eines Forschers darstellen, die die gesamte vorhandene Literatur auf ihrem Gebiet überholen und dem Urteil auf lange hinaus die Wege weisen. Und hiermit ist die Zahl der trefflichen Darstellungen aus der politischen Geschichtschreibung noch keineswegs erschöpft. Zu denen, die in ihrem Stoff der Gegenwart sich nähern, gehören vor allem die fesselnden Bücher des Österreichers Friedjung („Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland“). Die genannten Werke sind der deutschen Geschichte gewidmet. Unsere Wissenschaft hat aber auch die Neigung und Fähigkeit bewahrt, die Geschichte anderer Völker zu verfolgen, und von Forschung wie Darstellung gilt es noch heute, daß die Deutschen für die Aufklärung der Geschichte anderer Völker erheblich mehr tun als andere Völker für die deutsche Geschichte.

Einen erfreulichen Aufschwung nimmt die deutsche Territorial- und Stadtgeschichte, zum Teil im Zusammenhang mit der erhöhten Pflege der Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte, aber auch in der Form der politischen Geschichte. Wir gedenken hier auch der „Historischen Kommissionen“, die in fortschreitender Zahl für die einzelnen deutschen Landschaften mit der Bestimmung begründet werden, deren Geschichte uns nach allen Richtungen hin vorzuführen.

Neu erschlossen hat sich die politische Geschichtschreibung das Gebiet der Parteigeschichte, das bisher ganz unbeackert gewesen war. Es wurden sowohl Beiträge zur Parteigeschichte im allgemeinen wie Biographien einzelner Parteihäupter (z. B. Kleist-Retzow, Stöcker, Bennigsen, Aug. Reichensperger, Lieber, Eugen Richter, Lassalle) geliefert.

Über den Rahmen der Parteigeschichte hinaus geht die Geschichte der politischen Ideen, ein von jeher beliebtes Arbeitsgebiet, dem man aber heute eine Vertiefung zu geben gewußt hat. Eine glänzende Vertretung hat dieser Zweig unserer Wissenschaft in F. Meineckes „Weltbürgertum und Nationalstaat“, einem Vorbild allgemein geistesgeschichtlicher Forschung, das uns Werden und wechselnde Ausprägung der nationalen Idee in unserm Vaterlande vorführt. Aus der Literatur des Mittelalters ist Dante ein bevorzugtes Problem, mit eindringenden und feinen Untersuchungen.

Neben der Wirtschaftsgeschichte hat die politische Geschichte der neueren Jahrhunderte heute wohl die meisten monographischen Arbeiten aufzuweisen. Wenn früher ein junger Historiker seine Doktorschrift veröffentlichte, so beschäftigte sie sich meistens mit einem Thema aus der mittelalterlichen Quellenkunde oder aus der Geschichte des Verhältnisses von Staat und Kirche. Gegenwärtig werden diese Dinge nicht vernachlässigt. Aber es ist vieles hinzugekommen, und vor allem eben sind neben den Themata aus der Wirtschafts- und Verfassungsgeschichte solche aus der neueren politischen Geschichte beliebt.

Die politische Geschichtschreibung hat auf den Grundlagen der Rankeschen Auffassung weiter gebaut. Die Bedeutung der Nation und des konkreten Staates

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/46&oldid=- (Version vom 11.5.2019)