Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 3.pdf/456

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

zur Beruhigung, zu einer Klärung durchrang. Den zeichnenden Künsten ist hier in gewissen Grenzen ein Verdienst zuzuweisen.

Figurenmalerei.

Mit dem Erstarken der Griffelkünste, welcher die reizvolle japanische Zeichenkunst immer von neuem viele Anregung geboten hatte, mußte gleichzeitig die deutsche Vorliebe für zyklische Darstellung, welche ebenfalls den Sinn für geistige und seelische Werte in der Malerei pflegt, neu gekräftigt werden. Wir lesen schon 1893, „Wenn den Franzosen das Verdienst der Technik zuzuweisen ist, so sind für die seelische Erfüllung der modernen Kunst mit poetischem Gehalt die reichsten Keime, Blüten und Früchte in deutschem Erdreich zu finden“. Ein erhöhter Wohlstand befördert überdies das Herausbilden des Bewußtseins der Persönlichkeit, und Deutschland war reich geworden. Mit all diesem wird der Mensch wieder mehr in den Vordergrund geschoben. Jener oben betonte Mangel an bewegten figurenreichen Bildern in der Periode der eigentlichen Herrschaft des Impressionismus erklärt sich zum Teil auch aus dem sehr starken Widerwillen der jungen Strebenden gegen den nach ihrer Meinung unwahren Theaterrealismus in der dem Menschen allein gewidmeten Historienmalerei jeder Art. Es herrschte hier, nach ihrer Ansicht, zuviel Reflexion, zuviel Verstandesarbeit, zuwenig Anschauung, zuwenig Erlebnis. Im Jahre 1893 fanden sich unter den Bewerbern des großen Staatspreises in Preußen für Geschichtsmalerei keine Maler, sondern nur sechs Bildhauer. Am freiesten konnte sich von den Vorwürfen der Unwahrheit ein geschichtlicher Stoff halten, dessen Inhalt allen gefühlsmäßig so innig vertraut war, daß die literarische Limitierung überall zurücktreten mußte, die religiöse Malerei. Deshalb bemerken wir auch, daß trotz des Eindringens der naturalistischen französischen Freilichtmalerei die religiösen Stoffe immer von neuem behandelt werden. Ja, gerade die Auffassung, welche die unmittelbare Gegenwartswirkung im Bilde verlangte, mußte darauf verfallen, die Schilderung der Heilslehre, die immer allgegenwärtig ist und sein soll, gleichwie zu Lebzeiten des Heilandes, mit den Mitteln dieser naturalistischen Kunst auszustatten. Es ist von allgemeinem Werte, sehr bestimmt festzustellen, daß auch unter der Herrschaft der Eindruckmalerei die religiöse Malerei sich nach mannigfachen Richtungen zu entwickeln versucht, und daß sie stetig an Ausdehnung gewonnen hat. Wir können allerdings lediglich von einer protestantischen Malerei der Heilslegende sprechen, da sogar die Richtung der katholischen Malerei, welche bewußt eine Regeneration bringen wollte, trotz aller guten Absichten gänzlich in das Gebiet der Tradition zurückgetreten ist. Unter den religiösen Malereien seit den achtziger Jahren finden wir große Freskenzyklen, Panoramen und Staffeleigemälde in der verschiedenartigsten Auffassung. Es sind die Männer und Frauen unserer Zeit um den Heiland versammelt, es ist versucht worden, das „Religiöse“ aus dem modernen Seelenleben zu schöpfen und modernes landschaftliches Stimmungsleben mit diesem zu verketten, es ist der Orient als Hintergrund gewählt worden, die Reformationszeit hat ihr Kleid, ihre Form wie ihre Farben, Rembrandt sein zauberisches Helldunkel herleihen müssen, es wurde der Somnambulismus beschworen, und es hat die von unmittelbarer Gegenwartswirkung befreite phantasiegewaltige

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1585. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/456&oldid=- (Version vom 28.9.2022)