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Dolmetscher des Sollens und Wollens der Völker schilderten demzufolge das Leben dieser Massen. Im Jahre 1888 sah man auf einer Ausstellung 86 Genrebilder, unter diesen war auf 65 das Leben der Bauern, der Arbeiter und der dienenden Klasse dargestellt. Da es sich in diesem Falle meistenteils um eine Schilderung von verhältnismäßig wenig bewegten Menschen handelte, die sich vielfach im Freien oder im neuzeitlichen Hellraum aus Glas und Eisen aufhielten, so konnte die Lichtmalerei überdies etwas unbekümmerter ihren besonderen Zielen nachgehen, d. h. auch den Menschen als Lichtträger und Raumwert verwenden. Immerhin stieß der Impressionismus bei der Interieurmalerei von vornherein auf Widersprüche. Es gab modernste Künstler, die erklärten, im Zimmer gäbe es, trotz der Eselsbrücke des holländischen Fensters, keine Luft. Hier wollte man gern der Nahsicht, der Einzelform, der Linie und der ruhigen, geschlossenen Beleuchtung ihr Recht lassen. Denn sobald die Maler die Grundsätze der Impressionsmalerei auf das Genre und das Porträt folgerichtig übertrugen, kamen diese in die ernsteste Gefahr von dem schnellgleitenden, vielfarbige Reflexlichter verteilenden Sonnenstrahl im innersten Wesen zerstört zu werden. Aus diesem Grunde traten damals tatsächlich Szenenmalereien von feinerem geistigen Gehalt, wie auch das Porträt zurück, oder man faßte das Bildnis als Momenteindruck auf, womit es natürlich ebenfalls nicht unwesentlich seines Charakters beraubt wurde. Die neuzeitliche Malerei war also bei der Schilderung des Menschen und seiner Handlungen stark in das Gebiet des Abschreibers von Naturerscheinungen gekommen, da sie sich zu einseitig einer an sich hochkünstlerischen Aufgabe hingegeben hatte. Aber Übertreibungen dieser Art beweisen noch keine grundsätzliche Verirrung oder eine Erkrankung. Wir brauchen nur etwas weiter umzuschauen, etwa die Literatur zu beachten, um von neuem die Gewißheit zu erhalten, daß die Malerei in ihrem Grundprinzip, stets und überall „Natur“ sein zu wollen, auf dem Boden ihrer wirklichkeitsfrohen Gegenwart stand. Auch die redenden und darstellenden Künste hatten die Absicht, sich von allen novellistischen Zutaten freizuhalten, unbefangen aus dem Motiv heraus das jeweilige Lebensereignis zu versinnbildlichen, wie etwa in den Aufführungen der „Freien Bühne“ zu Berlin (1891), wo das Leben und die Leiden der niedrigeren Volkskreise dargestellt wurden. Eine neue Art schauspielerischer Darstellungsweise suchte ebenfalls den neuzeitlichen Anforderungen durch ein realistisches Spiel gerecht zu werden. Man begünstigte also auch hier nicht mehr den Kothurn, sondern eine naturalistische Richtung, die in der Wirklichkeitsschilderung ihre Wahrheit fand. Auch die angewandte Kunst, das Kunstgewerbe, begann ungefähr gleichzeitig in den Bann einer werkmäßigen Logik zu treten. Genug, in ganz Deutschland, bei den jungen wie auch bei vielen älteren Künstlern beherrschte der Naturalismus, scharf ausgedrückt, die im großen und ganzen wahllose Schilderung der sichtbaren Welt.

Betonung des Innenlebens.

Fast in derselben Stunde, in welcher dieser Naturalismus in Deutschland Herrscher geworden war, setzte der Umschwung ein. Die Engländer (Whistler) und die Schotten sind die treibenden Kräfte geworden. Durch jene gelangten unsere Maler zu der „grauen“

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1583. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/454&oldid=- (Version vom 28.9.2022)