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banale Operetten und durch Stücke, die das Sexuelle unzweideutig in den Vordergrund schieben, arg herabgedrückt ist, eine neue schwere Gefahr erleidet.

Drama.

Im Drama bleibt Hauptmann noch immer eine starke Hoffnung. Wedekind ist der vertrackteste von allen, Clown und Tragiker und Skeptiker, L. Thoma der witzigste; einzelnes gelang Halbe, Dreyer, Beyerlein, Schnitzler, Schönherr („Erde“, „Glaube und Heimat“); kerndeutsch mutet uns Schmidtbonn an; Eulenberg zerrt uns zwischen Erwartung und Enttäuschung hin und her. Es ist so wundersam bei so vielen unserer heutigen Talente. Das Letzte, Undefinierbare, der Punkt auf dem I fehlt. Da scheint zunächst alles vorhanden zu sein: scharfe Beobachtung, hinreißende Ideen, glänzende Einzelheiten, und doch fehlt die wahrhaft künstlerisch alles zusammenschließende Einheit. Riesenquadern werden gewälzt und gerichtet, die überwölbende Kuppel bleibt aus. Sisyphusgestalten voll tiefer Tragik sind diese Talente. Sie sehen immer nur sich selbst, erleben sich selbst; sie bzw. ihre Helden sollten die Welt in sich aufnehmen, gestalten, überwinden; sie fühlen sich aber von ihr abgeschreckt, zurückgestoßen und spinnen sich wieder in sich selbst ein. So entsteht eine Kluft zwischen Seele und Wirklichkeit. Aus solchem Zwiespalt können nur Dramen der Gefühlsspannung, keine Tatsachendramen erstehen; so kann keine Offenbarung, keine Befreiung erzielt werden. Paul Ernst, der auch den ebenso feinen wie tiefen Roman „Der schmale Weg zum Glück“ geschrieben, Samuel Lublinski, der früh Verstorbene, und Wilhelm v. Scholz, der tiefsinnige Lyriker, suchten in Theorie und Tat neue Wege. Nicht aus Nervenrausch und Wortakrobatentum eines Hofmannsthal, nicht aus Flucht in deutsche und fremdländische Sage (Stucken, Hardt u. a.) wird das neue große Drama hervorgehen, sondern die Entwicklung weist auf die Linie, die von Schiller über Kleist und Hebbel führt.

Ausblick.

Auf allen Gebieten waltet Sehnsucht nach Erneuerung und Vertiefung, unsere besten Dichter sind Grübler, Ringende um die höchsten Lebensfragen, Kämpfer um das Beste unseres Volkstums. 1905 und 1909 brachten die Schiller-Feiern. Schiller fordert von der Jugend einen „philosophischen Kopf“ – es ist Zeit, daß die Vorherrschaft des Sozialen und Technischen und daß der Materialismus durch Erfassung eines rein geistigen Weltbildes gebrochen werde. Schiller mahnt: „Kein Mensch gedeihet ohne Vaterland“ – hinweg also mit Übermenschentum und Kosmopolitentum! Er, der männlichste unter unseren Dichtern, hat das Wort geprägt: „Der Wille ist der Geschlechtscharakter des Menschen“ – hinweg mit Kleinmut und Verzagtheit, hinweg mit spukhaftem, blutarmem Traumleben auch in der Dichtung! Möge national und sittlich, männlich und tief und wahr im Geiste Schillers sich die Erneuerung vollziehen! Auf das Zeitalter des Kindes folge wieder das des Mannes, wie es die eisernen Jahre 1813/15 heraufführten; heute zerbrechen zu viele edle Talente wie Emil Gött am Leben oder gelangen nicht zur Lebensgestaltung in vollem erstrebten Maße. Unser Kaiser rief einst der Bonner Jugend zu: „Der feste, mannhafte Vorsatz, als Germanen an Germanien zu arbeiten, es zu heben, zu stärken und zu tragen, durchglühe Sie! Die

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1553. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/424&oldid=- (Version vom 11.5.2019)