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Der Anteil der Historiker an der Erforschung der verschiedenen Seiten der Kulturgeschichte stuft sich je nach den näheren oder entfernteren Beziehungen der einzelnen Kulturgebiete zum Staat ab. Sie richten nicht ängstlich Scheidewände gegenüber anderen Disziplinen auf. Aber neben der Natur der Quellen gibt es doch auch ein sachliches Prinzip der Stoffabgrenzung. Wo der Staat und seine Tätigkeit in Betracht kommt, da vornehmlich fühlt der Historiker sich hingezogen: εφέλχεται άνδγα διηγος.

Mit den Juristen teilen sich die Historiker in die Erforschung der Verfassungsgeschichte. Auch hier weist unsere Periode einen reichen Ertrag auf, namentlich auf zwei Gebieten. Einmal hat das große Problem der Entstehung der deutschen Städteverfassung eine Teilnahme der Forschung gefunden (seit 1887) wie vorher nie; es gibt keine Frage der Verfassungsgeschichte, der so zahlreiche Schriften und Abhandlungen gewidmet sind, wie dieser; rechtsgeschichtlich und wirtschaftsgeschichtlich wird sie mit gleichem Eifer diskutiert. Sodann üben die Einführung moderner Verfassungen und die in ihr zur Geltung kommenden Ideen, ihr Verhältnis zur französischen Revolution, die Vorgeschichte von deren Idealen, ebenso die Ursprünge der modernen Selbstverwaltung in Deutschland (der Steinschen Städteordnung) eine starke Anziehungskraft aus.

Während die Historiker die Pflege der Kunstgeschichte, der Geschichte der poetischen Literatur und der Philosophie überwiegend den besondern Fachdisziplinen überließen, arbeiteten sie auf dem Gebiet der Kirchengeschichte emsig mit den Theologen zusammen. In Konkurrenz mit ihnen widmeten sie sich ferner der Geschichte der gelehrten Studien, so der Universitäten und Akademien. Wir besitzen jetzt eine etwa zur Hälfte vollendete allgemeine Geschichte der deutschen Universitäten, eine großzügige Geschichte der Berliner Akademie und eine stattliche Zahl von Darstellungen der Geschichte einzelner Universitäten, unter denen das Jubiläumswerk der Berliner Universität durch die Bedeutung des Gegenstandes und eingehendste Behandlung voransteht. Auf die Organisation der hohen Schulen ist dadurch ebenso Licht gefallen wie auf große geistige Bewegungen. Die Geschichte unserer eigenen Disziplin hatte man früher zum größeren Teil nur für das Mittelalter verfolgt. Nunmehr ist man tätig, die Lücke für die Neuzeit auszufüllen. Wir dürfen uns heute einer beträchtlichen Literatur zur Ranke-Interpretation, mehrerer Monographien über andere Geschichtsforscher und eines Werks, welches die Entwicklung der neueren Historiographie bei der Gesamtheit der abendländischen Kulturvölker schildert, rühmen. Wir besitzen auch eine in großem Zug gehaltene Darstellung der Entwicklung der Historiographie von den Völkern des Altertums bis zu den neueren Jahrhunderten.

Die Motivenforschung.

Die reiche Entfaltung der wirtschaftsgeschichtlichen Literatur wie der kulturgeschichtlichen Studien überhaupt entspringt einer Reihe verschiedener Antriebe. Einer der stärksten ist die Motivenforschung. Sie ist ein weiteres Kennzeichen unserer Zeit. Die Zahl der Arbeiten über die „Entstehung“, den „Ursprung“, die „Ursachen“ einer historischen Erscheinung ist nie so groß gewesen wie heute. Indem man sich bemüht, die Motive und Ursachen der historischen Erscheinungen aufzusuchen, wird man darauf gewiesen, nach den Kulturbedingungen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/42&oldid=- (Version vom 11.5.2019)