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wie er es in schönem Idealismus im Dezember 1901 ausgesprochen hat, im Anblick der herrlichen Überreste aus der alten klassischen Zeit das Gefühl, daß in ihnen, wie in der Allmutter Natur, ein ewiges Gesetz walte, das Gesetz der Schönheit und Harmonie, und über dieses dürfe die Kunst sich nicht hinwegsetzen. Er sprach vielen Zeitgenossen aus der Seele mit den Worten: „Wenn die Kunst, wie es jetzt vielfach geschieht, nichts weiter tut, als das Elend noch scheußlicher hinzustellen, als es schon ist, dann versündigt sie sich damit am deutschen Volk. Die Pflege der Ideale ist zugleich die größte Kulturarbeit, und wenn wir hierin den andern Völkern ein Muster sein wollen, so muß das ganze Volk daran mitarbeiten, und soll die Kultur ihre Aufgabe voll erfüllen, dann muß sie bis in die untersten Schichten des Volkes hindurchgedrungen sein. Das kann sie nur, wenn die Kunst die Hand dazu bietet, wenn sie erhebt, statt daß sie in den Rinnstein niedersteigt.“

Der Kaiser, der inmitten des pulsierenden Staatslebens stehende Mann, der das Steuer fest packt, er, der Jäger und Seemann und Soldat, konnte keinen Geschmack an dem femininen Zug vieler Ästhetenseelen oder an den Ausgeburten einer kraftlosen, müden Kunst und ihrer Lebensverneinung und Lebensverachtung finden. Wir müssen es mindestens verstehen, wenn er Hauptmann den Schillerpreis versagte.

Große der älteren Generation wurden erst jetzt gewürdigt.

Doch gar manche alte wackere Künstler lebten auch noch in dem neunten Jahrzehnt des 19 Jahrhunderts, wenn die heiße Jugend sie auch totgeschlagen zu haben meinte. Auch waren die Stürmer durchaus nicht einig, wer auf der Strecke bleiben und wer noch weiter leben sollte. Nach und nach aber bildete sich die bessere Erkenntnis für das Wahre und Große; wie in der Musik Wagners Schaffen als eine der größten Kulturtaten deutschen Geistes begriffen und empfunden wurde, so schied man auch in der Poesie allmählich mehr und mehr Echtes und Unechtes.

Die Dichtung ist wie das Meer; unablässig kräuseln sich die Wellen, vom Winde leise bewegt, oder die Wogen brausen im Sturm; doch die Tiefe bleibt ungerührt, unergründlich, und der Himmel sendet Sonnenlicht und Sternenglanz am dauerndsten hinab in Frieden und Stille. Die Tagesgrößen führt der Tag herauf, und der Tag nimmt sie wieder hinweg, und ihre Spuren verwischen sich rasch. Die wahrhaft Großen aber sind in der Ewigkeit verankert. Ihr Schaffen kann verkannt, ihr Ruhm verdunkelt werden; sie sterben, vielleicht zu spät gewürdigt, doch die Ewigkeitswerte, die sie in selbstsicherem Stolze in ihrer Brust hegten, verbleiben der Menschheit unverlierbar. Sterne zweiter Größe leuchteten auch noch über dieser Epoche fort, obwohl ihr Hauptwerk getan war (wie etliche „Münchener“, wie ferner Spielhagen, Friedr. Wilh. Weber, der zum Haupte einer sehr lebhaften katholischen Literaturbewegung erhoben wurde). In Wahrheit aber entdeckt wurden auf dem Gebiete des Dramas erst jetzt Hebbel und Ludwig.

Friedrich Hebbel.

Die herbe Weltanschauung Hebbels ist weit entfernt von Beschönigung und Verhimmelung, wenn er auch als echter Dichter wie die großen griechischen Tragiker den Stoff des Tatsächlichen unter das lebenspendende

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1542. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/413&oldid=- (Version vom 11.5.2019)