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So schließt eine flammende Streitschrift jener Tage, und von solchen Ideen erfüllt waren Maurice v. Sterns „Proletarierlieder“ und „Stimmen im Sturm“, Mackays „Sturm“, „Das starke Jahr“ und Ludwig Scharfs „Lieder eines Menschen“ (1892). Es war eine seltsame Ironie, daß der kranke, machtlose Philosoph zum Propheten des „Willens zur Macht“ wurde und daß die Dékadence-Menschen, die in sein Gefolge sich drängten, zu „souveränen Individuen“ sich stempelten.

Nietzsches Größe.

Nietzsche war ein Gedanken- und ein Sprachkünstler ersten Ranges. Darin vor allem liegt seine dauernde Bedeutung. Er verfügt über eine Mannigfaltigkeit des Tones, der alle Geistesregungen klar und eindringlich wiedergibt, den leidenschaftlichen Ernst des Denkers, die weiche Empfindung des Dichters, die Innigkeit und Tiefe des Mystikers, Witz, Ironie, Spott, Zorn. Seine Worte sind von Musik getragen; sie läuten Sturm und wirbeln in ausgelassenem Tanze, und man hört bezaubert die Sprache von Psalmen, Propheten und Hymnen. Er spürte es selbst bei seinem „Zarathustra“, wie ihn übermächtige Gewalten zum Reden zwangen, daß es aus ihm hervorbrach wie Lavaströme, in Entzückung und Schauder, in Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz wirkt, sondern als eine notwendige Farbe eines solchen Lichtüberflusses; die weiten Räume von Formen überspannt ein Instinkt rhythmischer Verhältnisse; alles geschieht wie in einem Sturm von Freiheitsgefühl, von Göttlichkeit; Bild und Gleichnis stellen sich als der nächste, richtigste, einfachste Ausdruck ein! – Ein Gedankenrausch ist der „Zarathustra“, und so hat er befruchtend und verfeinernd, bereichernd, aber auch verführend auf die Lyriker und Erzähler, denen das Leben als Gesamtheit voll Geheimnisse und Rätsel war, gewirkt, wie kein zweites Wert der Zeit. Was er von der Nacht, von der Einsamkeit, der Stille, von Meer und Bergen, von Gottsuchen und Lebensbejahung und Lebensverklärung und Deutschtum („Das Land eurer Kinder sollt Ihr lieben!“) gesungen, das gehört zum Schönsten im Schatze unserer neueren Dichtung.

Nietzsche, den wie Hauptmann hin und herschwankenden Dichter-Philosophen, zu überwinden in Theorie und Tat ist eine der wichtigsten Forderungen der Zeit; die echte, rechte, große Dichtung darf den engen Zusammenhang und Zusammenhalt mit dem Heimatboden, dem Volksempfinden und dem Staatsleben nicht verlieren.

Stellung des Kaisers zur Literatur.

Unser Kaiser, der selbst als hervorragende und charaktervolle Persönlichkeit den Widerstreit in der Seele des modernen Menschen tief empfindet, pries einmal mit warmen Worten die Harmonie der Griechen, bei denen die ästhetisch-ethische Kultur der organische Ausdruck des ganzen Volkstums war, und als ein Mann vielseitigster Bildung und großzügiger Ideen, die eine neue Weltlage dem Vaterlande schufen, würdigt er nur die Dichtung, die den Beziehungen zum Nationalen und Politischen dient; so stellt er Kleist und Hebbel, Wagner und Wildenbruch hoch und wendet dem Naturalismus Hauptmanns ebenso wie dem Nietzscheschen Individualismus und Häckels Monismus den Rücken. Ihn überkommt,

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1541. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/412&oldid=- (Version vom 11.5.2019)