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ankündige. „Familienkatastrophen“ nach Ibsenschem Muster folgten, 1892 das erschütterndste: Zeitdrama „Die Weber“; ein großer gedrückter Volksstand ist hier der „Held“, das Schicksal[1] die furchtbare Not, die im Wutschrei die Hände zum Himmel reckt, Gerechtigkeit heischend. Die Höhe hat Hauptmann kaum wieder erreicht; mehr episch-lyrisch als dramatisch begabt, stärker in der Anschauung als im Gedanken schwankte er zwischen symbolischer Traum- und Märchendichtung („Hannele“, „Versunkene Glocke“) und naturalistisch-psychologischer Zustands- und Menschenzeichnung hin und her, er schuf eine der besten unsere Komödien („Biberpelz“), verriet jedoch in Dramen wie „Fuhrmann Henschel“ und „Rose Bernd“ die Unmöglichkeit, auf Biologie und Naturmechanismus eine Tragödie zu gründen, die, modern und großzügig zugleich, Ewigkeitswerte enthielte, gleichsam der Zeit die Zunge lösend, so daß sie ihr eigenes Geheimnis kundtue. Die Größe der Einzelbeobachtung und der Seelenkunde ist freilich unverkennbar („Kollege Crampton“, „Michael Kramer“, „Einsame Menschen“). Der Theatermann jedoch, der geschickt auf die Instinkte der Masse seine Stücke berechnete und so den Erfolg dauernd an sich heftete, war Hermann Sudermann („Ehre“ 83, „Heimat“ 93), der von Franzosen geschulte, neuerstandene „Kotzebue“. Halbes „Jugend“ und Rüderers „Fahnenweihe“ ragen aus der unübersehbaren Fülle des im einzelnen oft wirkungsvollen, im ganzen aber verfehlten dramatischen Schaffens jener Jahre hervor, so heiß um die Palme gerungen wurde von Hirschfeld, Rosmer, O. Ernst, Hartleben, Bahr und Schnitzler; die Berührung mit dem Volk suchte eigentlich nur einer, Fritz Stavenhagen, und der sank zu früh dahin.

Soziale Lyrik.

Die herrschende Lyrik vor der „Literatur-Revolution“ bewegte sich zumeist in glatten Spielmannsweisen und Schelmenliedern, in saft- und kraftloser Lebensverhimmelung, die nichts ahnte von der wirklichen Welt, wo das Arbeitervolk der Industriestädte in heißem Fron seufzte und der Proletarier in Elend verkam. In dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts erstand aber eine Lyrik, voll leidenschaftlichen sozialen Empfindens, wie es der Zeit der Kaiserlichen Erlasse, der Aufhebung des Sperrgesetzes, der großartigen Arbeiterschutzgesetzgebung, des evangelisch-sozialen Kongresses, des Wirkens von Männern wie Egidy, Stöcker, Göhre, Naumann entsprach. Großstadtleben mit Blumenhändlerinnen, Kellnerinnen und Dirnen, die als „Perditae“ mit Glorienschein umgeben wurden, bot die neuen Stoffe, und viel Proletarierschmutz wurde aufgewühlt, doch auch hier waltete ein Mißverhältnis zwischen Zorn, Entrüstung, Mitleid und dem Unvermögen, die neuen Probleme in eine entsprechende neue Form zu gießen. Von den Dichtern der „Modernen Dichtercharaktere“ (1885) mauserten sich die bedeutendsten; es sind jedoch nur wenige; andere gingen unter wie Hermann Conradi, ein Typus der Zeit in der Mischung von Pathologischem und leidenschaftlicher Aufrichtigkeit, von Zynismus und edlem Ringen, sein Inneres zu ergründen und in voller Nacktheit dazustellen.

Los vom Naturalismus!

Man suchte impressionistisch zu sehen und ging zum Telegrammstil über, indem Holz auch eine „Revolution der Lyrik“, vor allem im Technischen, vollführte und einmal wieder den Reim für abgeschafft erklärte. Doch die


  1. Druckfehlerberichtigung im 3. Band: das Komma hinter Schicksal ist zu streichen
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1539. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/410&oldid=- (Version vom 11.5.2019)