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Die Literatur
Von Prof. Dr. Alfred Biese,
Direktor des Kgl. Kaiser-Friedrichs-Gymnasiums in Frankfurt a. M.


Wir wollen 25 Jahre überschauen. Was ist ein Vierteljahrhundert im Strome der Jahrtausende? Eine Welle, die auf und nieder sinkt. Aber auch eine Welle ist eine Welt für sich, aus Milliarden von Wasserteilchen zusammengesetzt und Tausende von Lebenskeimen und Lebenswesen in sich bergend. Und auch die Welle spiegelt die Sonne, spiegelt Mond und Sterne wider.

Kunst und Leben.

Kunst ist Form, Kunst ist Seele; Seele aber ist nicht bloß Anschauung und Gefühl und Phantasie, sondern auch Wille und Charakter, der sich auf eine Weltanschauung, auf eine ethische Stellungnahme des einzelnen zum Weltganzen gründet. Denn so sehr die Kunst auch ihre Selbständigkeit gegenüber den anderen geistigen Mächten wahren muß, so geht sie doch in die Irre, wenn sie sich voraussetzungslos auf sich selber stellt und den Mittelpunkt des ganzen Lebens bilden will; das schränkt nicht nur das Leben ein, sondern verflacht auch die Kunst; diese muß der Welle gleich die ewigen Sterne der Ideale widerspiegeln; sie darf nicht zu einer mechanischen Nachbildung, nicht zu einer bloßen Bewegung der Kräfte, zu einem Spiel von Eindrücken werden, die man ohne Hinblick auf ein Ganzes des Lebens empfängt und gestaltet, und das Leben selbst darf nicht in einzelne Augenblicke zerflattern und zerstieben, sondern es erheischt geistige Zusammenfassung und Bewältigung. Das künstlerische Schaffen muß ein Niederschlag des ganzen Menschen, nicht des bloß künstlerischen Vermögens sein, eine Erhöhung des Lebens aus allen Kräften der Seele heraus. Wenn nur die eine oder die andere, wenn bald die sinnliche Erfassung der Umwelt, bald die Schwingung der eigensten Innerlichkeit vorwaltet, dann wird sich ein Vollendetes, ein Dauerndes nicht gestalten.

Die Dichtkunst als der mehr oder weniger getreue Abdruck des äußeren und inneren Lebens einer Zeit wird der Einheitlichkeit entraten, wenn diese selbst in ihrer ganzen Kulturbewegung unausgeglichen und brüchig, nervös und problematisch ist. Wie ein wirres Chaos mag dem oberflächlichen Beobachter das Schaffen der Gegenwart erscheinen, das keine Richtung, sei es vom Idyllischen bis zum Barocken, vom Schlicht-Gesunden bis zum Perversen und Pathologischen, vom Impressionismus bis zum romantischen Symbolismus unvertreten sein läßt. Hier wird die Beziehung zum Volk und die Verjüngung der Kunst durch die innigste Berührung mit dem Volkstümlichen gepflegt,

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1535. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/406&oldid=- (Version vom 9.3.2019)