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Immer mehr haben sich im Wohnungswesen die zwei entgegengesetzten Richtungen ausgebildet und organisiert: Baudichtigkeit und Weiträumigkeit, das Streben nach möglichst hohen und der Wunsch nach niedrigen Bodenpreisen, Grundbesitzer- und Mietervereine. Die dritte Gruppe, nämlich die Hausbesitzer, haben sich bisher unter dem gemeinsamen Titel „Haus- und Grundbesitzervereine“ ins Schlepptau nehmen lassen, erkennen und erklären jedoch neuerdings vielfach, daß ihre Interessen mit denjenigen der Bodenspekulanten und Terraingesellschaften keineswegs übereinstimmen. Von den Einwohnern unserer großen Städte leben 90% und mehr in Mietwohnungen. Es dient daher der großen Mehrheit der Bevölkerung, wenn die Bodenpreise möglichst niedrig gehalten werden, überdies aber der ganzen Gemeinde, um Land für öffentliche Zwecke billig erwerben zu können, um Baulustige anzuziehen, welche die Ausnützung nicht bis zu den äußerst zulässigen Grenzen treiben wollen, um dadurch den Städtebau mannigfaltig und erfreulich zu gestalten.

Seitdem die Wohnungsverhältnisse für die unbemittelten Klassen und bis in den Mittelstand hinauf so schlimm geworden sind, ist viel Liebe und Arbeit auf Abhilfsmittel verwendet und hierdurch der Periode dieses Berichtes auch ein erfreuliches Merkmal aufgedrückt worden. Von den beiden oben angeführten Bestandteilen, Bauplatz und Baukosten, sind die letzteren durch sorgfältige Verteilung der Räume und geschickte Konstruktion hinunterzudrücken gesucht, und hat sich jüngst vielfach die nutzbare Wohnfläche in Einfamilienhäusern nicht kostspieliger herausgestellt als in mehrgeschossigen Miethäusern. Leider sind die Arbeitslöhne und Materialpreise innerhalb unserer Berichtsperiode wohl um ⅓ gestiegen. Was hilft aber die Kenntnis über diese Preisbewegung, da es doch kein Mittel dagegen gibt, vielmehr die Baukosten einfach durch die Konkurrenz reguliert werden? Entschiedene Einwirkung vonseiten der öffentlichen Gewalt kann und soll jedoch bei den Preisen der Bauplätze stattfinden, und da fehlt es außer dem schon besprochenen Hauptmittel einer guten Bauordnung ebenfalls nicht an Bemühungen und Vorschlägen, welche nunmehr aufgezählt werden sollen. Sie beziehen sich zumeist auf die Tätigkeit der Gemeinde, welcher naturgemäß zunächst die Fürsorge für ihre Angehörigen und eine entsprechende Bodenpolitik obliegt.

Hierzu gehört vor allem frühzeitige Aufschließung neuer Baugebiete durch Straßen und sonstige Verkehrsmittel, um die Konkurrenz in Bauland zu erweitern. Ferner, um vonseiten der Gemeinde direkt einwirken zu können, die Vergrößerung ihres Besitzes mittels Eingemeindung, Erwerb von Grundstücken und nötigenfalls mittels Zwangsenteignung. Die Fläche des Gemeindeeigentums übertrifft in einigen Städten schon die Hälfte des Weichbildes (Frankfurt, Freiburg, Augsburg, Ulm). Wo eine Eingemeindung nicht zustande gekommen, bildet ein „Zweckverband“ unter den wohnlich zusammengehörigen Gemeinden einen Notbehelf – ob mit Erfolg, wird die Zukunft von Großberlin lehren.

Besondere Vorsicht erfordert sodann die Hergabe von Gemeindeland an Baulustige. Dieselbe sollte stets unter Bedingungen erfolgen, welche sich teils auf die Beschaffenheit der beabsichtigten Häuser beziehen, teils auf die Verhinderung der Spekulation, etwa durch Beschränkung des Gewinns des Unternehmers auf ortsübliche Höhe, so daß ein

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1530. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/401&oldid=- (Version vom 10.12.2016)