Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 3.pdf/391

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

freien Spiel der Kräfte das Beste erreicht werde. Der Städtebau blieb daher hauptsächlich der privaten Unternehmung überlassen, deren Ziel nicht sowohl die Fürsorge für die künftigen Bewohner als der größtmögliche eigene Gewinn bildet. Indessen wurden im Laufe der Zeit die begangenen Fehler und die richtigen Grundsätze immer klarer erkannt, und mit dem allgemeinen volkswirtschaftlichen Umschwung wuchs auch im Städtebau die Überzeugung, daß es Recht und Pflicht der öffentlichen Gewalt sei, private Interessen zugunsten des Gemeinwohls einzuschränken.

Grundlegende Vorgänge.

Für den Städtebau als Wissenschaft können als Beginn zwei Vorgänge gelten, welche kurz vor unsere Berichtsperiode fallen. Der eine bestand in den Verhandlungen des Verbandes deutscher Architekten- und Ingenieurvereine auf der Versammlung 1874 in Berlin. Die damals großenteils einmütig beschlossenen „Grundzüge für Stadterweiterungen“ besitzen noch heute ihre Bedeutung und sind auch teilweise in gesetzlichen Anordnungen befolgt worden.

Der zweite Vorgang aus jener Zeit war das 1876 erschienene Buch Baumeisters „Stadterweiterungen“. Der Verfasser hat sich bestrebt, den neuzeitlichen Städtebau nach allen vorhin genannten Aufgaben und Richtungen systematisch zu entwickeln. Somit kann dieses Buch füglich als die Grundlage des wissenschaftlichen Städtebaues angesehen werden, wobei übrigens auch das künstlerische Element voll anerkannt und in verschiedenen Beziehungen eingehend erörtert worden ist. Etwas später wurde der Städtebau zuerst als Lehrgegenstand an einer technischen Hochschule eingeführt: Karlsruhe 1887.

Von den folgenden literarischen Erscheinungen ist vor allem Camillos Sittes Werk „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ 1889 zu nennen, 3. Aufl. 1901. An bestehenden Platz- und Stadtanlagen, namentlich aus älterer Zeit, hat Sitte die Ursachen ihrer architektonischen Schönheit in sehr anziehender Weise aufgedeckt und daraus Regeln für neue Entwürfe abgeleitet. Indem das Beweismaterial in weiten Kreisen bekannt und verständlich war, konnte es dem Buch einen bedeutenden Einfluß auf die Entwicklung des Städtebaues verschaffen. Freilich trat damit unter den Nachfolgern Sittes die Gefahr ein, die künstlerische Auffassung als die allein maßgebende anzusehen, unter Geringschätzung von Verkehr, Hygiene usw., und die früheren Leistungen im Städtebau zu vergessen.

Kurz nachher erschien „Der Städtebau“ von Stübben, in 2. Auflage 1907, als ein Teil des Handbuchs der Architektur. In diesem vortrefflichen Buch mit zahlreichen Abbildungen findet sich ein reichhaltiges Material und maßvolles Urteil zum Entwerfen von Stadtplänen. Weniger eingehend sind die Maßregeln zur Ausführung eines Stadtplanes behandelt, die Aufgaben von Staat und Gemeinden in rechtlicher und in wirtschaftlicher Beziehung, in welchen doch der Städtebau fast noch mehr Schwierigkeiten bietet und Meinungsverschiedenheiten hervorruft als bei dem Entwerfen. Diese Seiten wurden jedoch durch Stübben bei anderen Gelegenheiten wiederholt und erfolgreich beleuchtet.

Außer den genannten drei grundlegenden Werken hat natürlich das anhaltende starke Wachstum der deutschen Städte noch viele weitere Forschungen hervorgerufen. Zahlreiche

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1520. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/391&oldid=- (Version vom 13.9.2017)