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indessen nicht. Es waren zunächst die Kämpfe des Tages, die sie mit Notwendigkeit auf die politische Geschichtschreibung führten. Es war aber auch ein ganz natürlicher Gang der wissenschaftlichen Arbeit, daß zunächst der große Rahmen, innerhalb dessen sich die geschichtliche Entwicklung vollzieht, erforscht wurde. Wie wenig sich jene Historiker der Behandlung kulturgeschichtlicher Probleme an sich verschlossen, zeigt das Beispiel H. v. Sybels, eines der namhaftesten Vertreter der politischen Geschichtschreibung. Wir verdanken ihm tiefdringende und erfolgreiche Arbeiten von kulturgeschichtlichem Inhalt. Er hatte die Absicht, kulturgeschichtlichen Problemen in noch größerem Rahmen nachzugehen. Es waren dann lediglich Fragen aus dem harten politischen Kampf des Tages und die Erkenntnis, daß eine Begrenzung im Stoff die Voraussetzung für die Bewältigung großer Themata ist, was ihn fortan wesentlich auf die politische Geschichte beschränkt hat. Im übrigen genügt eine Erinnerung an die monumentale deutsche Verfassungsgeschichte von Waitz und die gedankenreichen kulturgeschichtlichen Arbeiten von W. Arnold, um den Vorwurf zu entkräften, daß jene Jahrzehnte für die Schilderung des Zuständlichen keinen Sinn gehabt hätten.

Stellung zum Staat.

Die Geschichtschreiber dieser Zeit nehmen politisch nicht eine gleiche Haltung ein. Historiker von romantischem Ursprung kämpfen gegen romantische Auffassung in Staat und Kirche, während andere an ihren romantischen Idealen festhalten. Mit diesem Gegensatz deckt sich großenteils, jedoch nicht durchweg der zwischen klein- und großdeutschen Historikern. In den inneren konstitutionellen Kämpfen der deutschen Staaten ferner betonte der eine Historiker mehr das Recht der Monarchie, der andere das des Landtags. Immerhin glaubte H. v. Sybel in einer akademischen Rede vom Jahre 1856 eine Verwandtschaft unter den deutschen Historikern gerade in politischer Hinsicht, allerdings unter Ausscheidung extremer Vertreter auf der rechten wie der linken Seite, beobachten zu können. Als das Charakteristische nannte er die „veränderte Stellung zum Staat: größere Klarheit und intensivere Kraft des nationalen Gefühls, praktische Mäßigung und eingehende Sicherheit des politischen Urteils, positive Wärme und freier Blick in der sittlichen Auffassung. Die doktrinäre Phrase und die politische Kannegießerei mancher altliberaler Historiker sind verschwunden.“

Dem Urteil Sybels fehlt nicht die Berechtigung. Jene übereinstimmende politische Auffassung der deutschen Historiker hervorgebracht zu haben, daran hat neben den Erfahrungen der damaligen deutschen Kämpfe vor allem Ranke gearbeitet. Schon allein einer der Gedanken, die er in seinen Werken immer von neuem zu betonen sich genötigt sah, die Beobachtung von der Wechselwirkung der inneren und der äußeren Verhältnisse des Staates, die Wahrheit, daß seine innere Struktur und Verfassung abhängt von seiner politischen Weltlage und den Aufgaben und Existenzbedingungen, die sich daraus ergeben, mußte in jener Richtung wirken.

Seitdem Sybel jene Worte gesprochen, veränderte sich der Charakter der deutschen Geschichtswissenschaft längere Zeit nicht. Vom Ende der fünfziger Jahre bis 1878 bemerkt man, trotz mancher sehr erfreulicher Leistungen, etwas von Stillstand. Eine gewisse

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/37&oldid=- (Version vom 31.7.2018)