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Geschichtschreibung und Geschichtsforschung
Von Geh. Hofrat Prof. Dr. G. v. Below, Freiburg i. B.


Rückblicke. − Niebuhr und Ranke.

Der gewaltige Aufschwung, den die deutsche Geschichtswissenschaft seit den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nimmt, beruht auf zwei Dingen: der Überwindung der rationalistischen Geschichtsauffassung durch die romantische und der Anwendung der von der klassischen Philologie ausgebildeten Methode auf die historischen Studien. Während die rationalistischen Geschichtschreiber die historischen Vorgänge nach Möglichkeit aus planmäßiger Absicht und oft bewußter Bosheit erklärten und über die Vergangenheit verständnislos aburteilten, suchen die Romantiker sich liebevoll in sie zu vertiefen, sie zu verstehen, nicht über sie zu richten. Sie lenken ferner ihr Augenmerk auf das Unbewußte, auf die allgemeinen Gewalten, die in der Geschichte maßgebend sind. Der Geist des Volks, das Nationale überhaupt wird zur Erläuterung der historischen Tatsachen herangezogen.

Die neue Methode und die dem Rationalismus entgegengesetzte Auffassung begegnen uns in klassischer Verbindung bei den beiden Vätern der deutschen Geschichtschreibung des 19. Jahrhunderts: Niebuhr und Ranke. Von Ranke sind wiederholt an praktischen Beispielen die Irrwege des rationalistischen Pragmatismus aufgezeigt worden. Hat seine erste Darstellung den Reiz einer ganz romantischen Empfindung, so ist er auch in seinen späteren Werken von abgeklärterem Stil der Neigung, sich unmittelbar in den historischen Stoff zu versenken, der Wertschätzung der allgemeinen Gewalten und konservativen Kräfte, die zu verstehen die Romantik gelehrt hatte, treu geblieben. Das rationalistische Absprechen über die Vergangenheit wurde durch ihn und sein Vorbild stigmatisiert. In der Methode historischer Forschung erreichte er ungeahnte Fortschritte. Die unbefangene Vertiefung in die Vergangenheit und die Verschärfung der Methode hingen innerlich zusammen und förderten sich gegenseitig.

Niebuhrs und Rankes Anregungen und Meisterstücken folgen Jahrzehnte emsiger historischer Forschung und fruchtbarer historischer Darstellungen.

Diese Jahrzehnte stellen eine Zeit der Blüte der deutschen Geschichtschreibung dar. Einen großen Zug haben vor allem die Werke der politischen Geschichtschreibung, in denen uns das Ringen der Staaten und Völker und die Verfassungskämpfe vorgeführt werden. Man hat den Historikern jener Zeit den Vorwurf gemacht, daß sie sich aus einseitiger Auffassung auf die politische Geschichtschreibung beschränkt, für die andern Teile der geschichtlichen Entwicklung kein Auge gehabt hätten. So verhielt es sich

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/36&oldid=- (Version vom 31.7.2018)