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So ist das Materialprüfungsamt der Technischen Hochschule Berlin aus der kleinen Versuchsanstalt in Frankfurt a. O. entstanden, in welcher Wöhler in den sechziger Jahren vorigen Jahrhunderts seine epochemachenden Versuche vornahm. Auf dem Wege über die Kgl. Gewerbeakademie in Berlin und die Technische Hochschule ebendaselbst ist diese Anstalt zu dem in Groß-Lichterfelde belegenen, einen Teil der Hochschule bildenden Prüfungsamt geworden. – Die Technische Hochschule München besaß bereits seit 1871 eine Versuchsanstalt, welche hervorragende Arbeiten von Bauschinger und Foeppl zu verzeichnen hat. Stuttgart besitzt eine 1884 durch Bach ins Leben gerufene Materialprüfungsanstalt, die durch die rastlose Tätigkeit ihres Gründers und Vorstandes grundlegende Bedeutung für Wissenschaft und Technik gewonnen hat. Auch andere Technische Hochschulen haben solche Prüfungsanstalten: Dresden, Darmstadt, Karlsruhe usw.

Außer an den Technischen Hochschulen bestehen auch an einer Zahl bedeutender Brückenbauanstalten Vorkehrungen zur Prüfung von Materialien und Konstruktionsteilen im großen Maßstabe.

Insbesondere machte sich das Bedürfnis fühlbar, planmäßige Versuche in großem Maßstabe anzustellen zur wissenschaftlichen Klärung wichtiger Konstruktionsfragen, bei deren Lösung die rein theoretische Untersuchung nicht genügte. Der im Jahre 1904 gebildete Verein deutscher Brücken- und Eisenbaufabriken, der sogen. „Brückenbauverein“, nahm diese Angelegenheit in die Hand und es wurde eine Versuchskommission ins Leben gerufen, mit Vertretern des Brückenbauvereins, des Ministeriums der öffentlichen Arbeiten und des Kultusministeriums. Der Arbeitsplan der Kommission[1] ist sehr umfangreich. Er umfaßt Versuche über den Gleitwiderstand der Nietverbindungen, Versuche mit fertigen Teilen von Eisenbrücken, über Anschlüsse steifer Stäbe, Ausknicken von Druckstäben, Seitensteifigkeit der oberen Gurtungen oben offener Brücken, Versuche über den Einfluß des Winddrucks auf gegliederte Brückenträger usw. Die Ausführung der Versuche ist dem Kgl. Materialprüfungsamt in Groß-Lichterfelde übertragen.

Die Versuche in den verschiedenen Prüfungsanstalten haben eine außerordentliche Bedeutung gehabt für die Kenntnis des oben bereits erwähnten neuen Baustoffs, des Eisenbetons. Nur auf Grund eingehender Versuche konnte man dem Eisenbeton immer größere Aufgaben zuweisen: man prüfte die einzelnen Konstruktionen, stellte die Gesetzmäßigkeiten und die Konstanten fest (die Elastizitätsziffer, die Festigkeiten, die Einflüsse der Zusammensetzung, des Alters, des Einzelmaterials usw.) Aber alle diese Versuche werden von dem Deutschen Ausschuß für Eisenbeton fortlaufend Berichte in besonderen Heften veröffentlicht.

Auch beim Eisen im weitesten Sinne schreitet man, gestützt auf Materialprüfung, rüstig vorwärts. Man hat in den letzten Jahren einen besonders widerstandsfähigen Nickelstahl in den Brückenbau eingeführt, dessen Eigenschaften wesentliche Fortschritte in den Konstruktionen versprechen.

Es darf wohl ohne Überhebung gesagt werden, daß auf dem Gebiete des wissenschaftlichen Brückenbaues Deutschland an der Spitze geht, dank der gediegenen Ausbildung seiner Ingenieure, dank besonders der Leistungen der drei größten: Otto Mohr, H. Müller-Breslau, H. Zimmermann.


  1. Zentralbl. d. Bauverw. 1909, S. 66; Eisenbau 1912, S. 193, 229.
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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1486. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/357&oldid=- (Version vom 20.8.2021)