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Ackerbaues überhaupt zugenommen hat. Auch die Reinheit und Ausgeglichenheit der Sorten und der angebauten Bestände hat dadurch beträchtlich gewonnen. Diese wertvolle Erweiterung der pflanzenzüchterischen Grundsätze, die einen Übergang von der Individual- zur Familienprüfung darstellt, ist wohl am längsten in Anwendung gewesen bei der Züchtung der Klein-Wanzlebener Zuckerrübe. Mit besonderem Nachdrucke ist sie aber vor allem durch von Lochow-Petkus in der Öffentlichkeit betont worden und bei der Züchtung seines Roggens zur praktischen Anwendung gelangt. Sie ist aber jetzt in der gesamten landwirtschaftlichen Pflanzenzüchtung anerkannt und stellt eine der wichtigsten Errungenschaften der letzten hier behandelten Entwicklungsperiode der deutschen Landwirtschaft dar.

Formentrennung.

Diese hat ferner noch in einer anderen Hinsicht einen Fortschritt in den pflanzenzüchterischen Grundsätzen gebracht in bezug auf größere Klarheit über die Vorbedingungen der züchterischen Arbeit. Während früher von England aus, zunächst besonders in der Tierzucht, das Wort gebraucht war, daß die Organismen, also Pflanzen oder Tiere, in der Hand des Züchters „wie Wachs“ wären, das nach Belieben geformt werden könnte, entweder mit Hilfe des Auftretens kleiner, aber häufiger Variationen oder zwar seltenerer, aber großer sogen. Mutationen, hat man in der neueren Zeit immer mehr einsehen gelernt, daß die in der kurzen Zeit, die der menschlichen Beobachtung zur Verfügung steht, wirklich auftretenden Veränderungen an den Organismen viel seltener sind, als man früher glaubte. Man hat vielmehr gefunden, daß bei der Bildung der wichtigsten neueren Züchtungen weniger das Auftreten einer Variation die Ursache war, als vielmehr das glückliche Auffinden einer wertvollen Form innerhalb eines ganzen Bestandes oder – nach Johannsen – in einer Population, die nach der richtigen Erkennung ihrer Vorzüge von den übrigen geringwertigen isoliert und in reiner Linie weitergebaut wurde. Man hat anzunehmen, daß in den gewöhnlichen Mischbeständen, die auf unseren Feldern vorhanden sind, meistens verschieden wertvolle, zum Teil auch in ihren Anlagen geradezu phänomenale Individuen vorhanden sind, daß diese aber, wenn sie nur in einer geringen Zahl unter anderen stehen, ihre Vorzüge nicht zur Geltung bringen und nicht erkannt werden können. Die Auswahl und isolierte Weitervermehrung der schon längst in Mischbeständen vorhandenen guten Pflanzen ist danach zunächst die wichtigste Aufgabe des landwirtschaftlichen Pflanzenzüchters, die als sogen. Formentrennung in Anwendung ist. Gelingt es mit dieser, einen guten Stamm aufzufinden und weiter fortzupflanzen, so führt dies in kürzerer Zeit zu einem praktischen Erfolge der Züchtung als der Versuch, mit Hilfe von Variationen Vorzüge allmählich zu steigern oder Fehler zu vermindern. Zugleich ist aber auch die Wahrscheinlichkeit einer sicheren Vererbung bei den Ergebnissen der Formentrennung größer als bei denen der Variation, da ja bei der ersteren auf schon lange Zeit bestehenden Eigenschaften der Individuen aufgebaut wird, während bei der letzteren der erste Fortschritt gerade auf dem Auftreten von Abänderungen beruht, also auf der Neigung der Pflanzen, zu variieren. Ist daher mit Hilfe einer Variation ein Fortschritt

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1457. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/328&oldid=- (Version vom 20.8.2021)