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des Auges ohne jeden Druck auf die lebenswichtigen Nachbarteile des Gehirns und ohne Verletzung der großen, in der Tiefe eben sichtbaren Nervenstämme, entfernt. Ist dieser Akt der Operation beendet, so wird das Kleinhirn wieder an Ort und Stelle gelagert, die harte Hirnhaut vernäht, der Knochendeckel eingefügt und die Wunde durch Naht geschlossen.

Aber an noch unzugänglichere Regionen wagen wir uns heran, um Gehirngeschwülste zu entfernen. So gibt es Neubildungen des ziemlich genau in der Mitte der Schädel- und Gehirnbasis gelegenen Hirnanhanges, der sogenannten Hypophyse, die ein höchst eigentümliches, durch Vergrößerung der Extremitäten und des Kopfes ausgezeichnetes Krankheitsbild hervorrufen und durch Druck auf den Sehnerven zur Erblindung führen. Diese noch vor wenigen Jahren für völlig unzugänglich gehaltenen Geschwülste erreichen wir nun nach dem Vorgange von Schloffer dadurch, daß wir die äußere Nase an drei Seiten aus ihren Verbindungen lösen, sie nach abwärts umlegen, uns dann den Weg an der Schädelbasis bis an die in großer Tiefe gelegene Keilbeinhöhle bahnen und durch deren obere und hintere Wand gegen die Geschwulst vordringen, ohne den benachbarten Sehnerven zu verletzen. Nach der durch starke Blutung erschwerten Entfernung des Gewächses wird die Nase wieder in ihre natürliche Lage gebracht und heilt hier ohne besondere Entstellung an. Auch ohne Aufklappung der Nase und in Lokalanästhesie läßt sich in geeigneten Fällen die Operation ausführen. Es ist erstaunlich, wie schnell sich nach dem Eingriffe die hochgradigsten Veränderungen der äußeren Körperform zurückbilden können.

Begreiflicherweise sind alle Operationen wegen Hirntumors sehr gefährlich, und ihre Sterblichkeit ist eine hohe, vor allem deshalb, weil die Mehrzahl dieser Geschwülste äußerst bösartig ist und sich diffus im Gehirn verbreitet. Die Resultate sind unter dem bereits betonten Gesichtspunkte zu betrachten, daß jeder sich selbst überlassene Hirntumor unabwendbar zu einem qualvollen Tode führt. Von 92 Patienten mit Hirngeschwulst, welche ich im Laufe der letzten 5½ Jahre beobachtet habe, konnten 72 einer Operation unterzogen werden. Von diesen leben heute noch, bis zu 4 und 5 Jahre nach der Operation, 22, und zwar haben 10 ihre volle Arbeitskraft, 20 ihre Sehfähigkeit wiedererlangt. Von 16 Patienten mit Geschwülsten der Hypophyse, welche sich von den eigentlichen Hirntumoren durch langsames Wachstum und gutartigen Charakter auszeichnen, hat v. Eiselsberg nur 4 verloren.

Außer der Gehirngeschwulst werden erfolgreich operativ angegriffen die Blutungen innerhalb der Schädelhöhle, die Abszesse des Gehirns, einzelne Formen der eitrigen Gehirnhautentzündung und der Gerinnselbildung in den großen Blutleitern der harten Hirnhaut, namentlich aber die vom mittleren und inneren Ohr ausgehenden Gehirnkomplikationen. Bei allen den genannten Affektionen des Gehirns und der Gehirnhäute ist es von größter Bedeutung, daß die Operation so früh als irgend möglich stattfindet; nur unter dieser Voraussetzung ist bei den überaus gefährlichen Erkrankungen eine Rettung möglich. Deshalb sind die großen Erfolge, welche die Diagnostik hier aufzuweisen hat, von gleicher praktischer Bedeutung wie die Fortschritte der operativen Technik.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1385. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/256&oldid=- (Version vom 20.8.2021)