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zu injizieren. Dadurch, daß die Gewebe „infiltriert“, also mit großen Flüssigkeitsmassen durchtränkt wurden, gelang auch mit sehr dünnen Lösungen des damals noch im Vordergrunde stehenden Kokains die Erzeugung einer wirksamen Anästhesie. Das Verfahren hat zwar durch die Einführung der fast ungiftigen Ersatzpräparate des Kokains etwas an prinzipieller Bedeutung verloren, doch ist es das bleibende Verdienst Schleichs, durch seine Methode den Siegeslauf der Lokalanästhesie eingeleitet zu haben.

Leitungsanästhesie.

Ein anderes Prinzip liegt der von Oberst erdachten regionären oder Leitungsanästhesie zugrunde, welche ursprünglich nur für Operationen an Fingern und Zehen geeignet war, in ihrer heutigen, namentlich Heinrich Braun zu dankenden Vollendung jedoch die Ausführung gerade der größten Operationen, besonders an der oberen Körperhälfte, ohne Allgemeinnarkose ermöglicht. Bei dem Verfahren wird das Anästhetikum durch Injektion an die zum Operationsfelde ziehenden Nerven verbracht und so das ganze, von diesen versorgte Gebiet gefühllos gemacht. Es ist ersichtlich, daß auf solche Weise in ganz besonderem Maße das erstrebte Ziel erreicht wird, mit möglichst geringen Mengen des chemischen Präparates möglichst große Bezirke zu anästhesieren. Wo infolge der anatomischen Anordnung isolierte Nervenstämme nicht erreichbar sind, bedienen wir uns des Prinzips der „Umspritzung“, indem wir rings um das Operationsfeld einen kontinuierlichen Infiltrationswall anlegen und so mit Sicherheit alle zuführenden Nervenstämme treffen. Das gleiche Ziel erreichen wir, wenn wir zum Zwecke einer Amputation den ganzen Querschnitt der Extremität mit der anästhesierenden Flüssigkeit durchtränken.

Venenanästhesie.

Um tiefgreifende Operationen an den Extremitäten, Resektionen und Amputationen, schmerzlos ausführen zu können, hat man sich auch der Injektion in die Blutgefäße bedient. Die Arterien sind für diesen Zweck weniger geeignet als die Venen. Bei der von Bier 1908 angegebenen Venenanästhesie wird die Extremität zunächst durch Wickelung mit einer elastischen Binde blutleer gemacht und die zu operierende Partie dann zwischen zwei Gummibinden abgeschnürt. In eine unter Lokalanästhesie freigelegte subkutane Vene dieses ausgeschalteten Bezirks werden 40–100 ccm einer ½prozentigen Novokainlösung eingespritzt, welche auf dem Blutwege mit allen Nerven des betreffenden Extremitätenteils in Berührung gelangen und so eine völlige Querschnittsanästhesie herbeiführen.

Rückenmarksanästhesie.

Den kühnen Schritt, an Stelle der peripheren Nerven die hinteren Wurzeln des Rückenmarks selbst mit dem schmerzstillenden Mittel in Kontakt zu bringen, hat im Jahre 1898 ebenfalls August Bier getan. Nachdem er dieses sein Verfahren der Rückenmarksanästhesie an sich selbst erprobt hatte, ging er zu allgemeinerer Anwendung über. Mittels der Quinckeschen Lumbalpunktion wird in den das Rückenmark umgebenden Subduralraum eine kräftige Hohlnadel eingestoßen und ein geringes Quantum der hier normalerweise vorhandenen Flüssigkeit entleert. Dann wird in einer aufgesetzten Spritze das Anästhetikum mit der angesaugten Zerebrospinalflüssigkeit gemischt und diese Mischung langsam eingespritzt. Nach 5–10 Minuten beginnt die Anästhesie am Damm und schreitet segmentweise nach unten und oben fort, bis schließlich die ganze untere Körperhälfte bis etwa

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1376. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/247&oldid=- (Version vom 20.8.2021)