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in ihrer heutigen Vollendung erst geschaffen. Fast alle Arten der Lokalanästhesie, über die wir zurzeit verfügen, sind schon sehr bald nach Entdeckung des Kokains angewandt worden, sie gerieten wieder in Vergessenheit, weil das Kokain sich als ein Präparat von beträchtlicher, vor allem aber gänzlich unberechenbarer Giftigkeit erwies. Deshalb wird es heute fast nur noch zur Anästhesierung von Schleimhäuten benutzt, auf die es einfach aufgepinselt zu werden braucht; die höchst wirksame Einspritzung des Kokains dagegen ist verlassen worden, weil die chemische Industrie uns Mittel an die Hand gegeben hat, welche dem Kokain an Wirksamkeit gleichkommen, seine Giftigkeit aber nicht entfernt erreichen.

Damit war ermöglicht, weit größere Mengen des Anästhetikums zu injizieren, und es konnte dazu übergegangen werden, nicht nur kleine Eingriffe, sondern große, ja die größten Operationen in Lokalanästhesie vorzunehmen. Während früher die sogenannte kleine Chirurgie die Domäne der örtlichen Schmerzstillung war, werden heute alle Bruch- und Kropfoperationen, zahlreiche Eingriffe an Gehirn und Rückenmark, an den Bauch- und Brustorganen, ja bis zu 40 und 50 Prozent sämtlicher Operationen ohne allgemeine Narkose ausgeführt, wodurch die Gefahr des operativen Eingriffes eine weitere erhebliche Herabsetzung erfahren hat. Die Kenntnis dieser Tatsache ist bereits so weit ins Publikum gedrungen, daß die Patienten sehr oft von sich aus die Forderung der Lokalanästhesie stellen. Um die psychische Beteiligung des Patienten auszuschalten oder wenigstens nach Möglichkeit zu vermindern, wird die beruhigende Wirkung des Morphiums oder eines verwandten Mittels zu Hilfe genommen. Auch die Kombination der Lokalanästhesie mit der oben erwähnten Rauschnarkose kann von Vorteil sein.

Novokain – Nebennierenpräparate.

Unter den zahlreichen Ersatzmitteln des Kokains ist am wichtigsten das von den Höchster Farbwerken hergestellte Novokain, welches dem Eukain, Stovain, Tropakokain und vielen anderen Präparaten durch die sehr geringe Giftigkeit, durch das Fehlen reizender und gefäßerweiternder Eigenschaften überlegen ist. Die Wirkung aller örtlich wirkenden Anästhetika aber vermögen wir heute dadurch außerordentlich zu steigern, daß wir nach dem Vorschlage von Heinrich Braun der einzuspritzenden Lösung in ganz geringen Mengen das aus tierischer Nebennierensubstanz hergestellte Suprarenin oder Adrenalin hinzufügen. Diese Nebennierenpräparate haben, wie das Tierexperiment gelehrt hat, gefäßverengernde Eigenschaften. Da die Blutgefäße in erster Linie die Aufsaugung der injizierten Lösung besorgen, so mußte die Zufügung von Suprarenin zur Folge haben, daß das Anästhetikum länger an Ort und Stelle verbleibt, also intensiver örtlich wirkt, während es gleichzeitig langsamer in den Kreislauf gelangt, also eine denkbar geringe allgemeine Giftwirkung entfaltet.

Infiltrationsanästhesie.

Für die Injektion der anästhesierenden Flüssigkeit, also vor allem der ½–2 prozentigen Novokainlösung mit Suprareninzusatz, sind verschiedene Methoden im Gebrauch. Großes Aufsehen hat seinerzeit die im Jahre 1892 von Schleich bekannt gegebene Infiltrationsanästhesie gemacht, weil sie uns zum ersten Male in den Stand setzte, die zur Ausführung großer Operationen unbedingt nötigen reichlichen Mengen des Anästhetikums

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1375. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/246&oldid=- (Version vom 20.8.2021)