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der zudem, soll er die Höhen seiner Kunst erreichen, noch andere, nicht erlernbare Eigenschaften auf die Welt mitbringen muß, vor allem Mut und Fähigkeit zu raschem Entschluß. Groß geworden aber ist die Chirurgie nicht durch die Technik, sondern einzig und allein durch die wissenschaftliche Vertiefung; diese hat bewirkt, daß gerade in den jüngst vergangenen Dezennien der deutsche Charakter der Chirurgie mehr und mehr hervorgetreten ist.

Ausbau der aseptischen Wundbehandlung.

Das stattliche Gebäude der modernen Chirurgie erhebt sich auf den beiden Grundpfeilern der aseptischen Wundbehandlung und der Bekämpfung des Schmerzes. Gerade der Ausbau der aseptischen Wundbehandlung ist ein Beispiel, wie wenig einfache Empirie, wieviel die freie Tat des erfinderischen und kritischen Menschengeistes zu leisten vermag: Was jahrhundertelange Erfahrung nicht zu zeitigen vermochte, schuf in wenigen Jahren der Genius einiger großer Männer, unter denen Pasteur, Lister und Koch an erster Stelle zu nennen sind. Es ist bezeichnend für die Größe Listers, daß ihm, dem eigentlichen Begründer der Antisepsis, die Rolle der Bakterien bei der Wundinfektion noch nicht offenbar war, er kämpfte vorahnenden Geistes gegen einen unbekannten Feind. Zwar hatte er aus seinen Studien die Überzeugung gewonnen, daß lebende Keime, welche in der Luft und auf allen Gegenständen verbreitet sind, in der Wunde eine der Gärung und Fäulnis ähnliche Zersetzung herbeizuführen vermögen, der streng wissenschaftliche Nachweis der Bakterien als Ursache von Wundinfektionen aber gelang erst dem deutschen Forscher Robert Koch.

Entdeckungen Kochs.

Wie eine Offenbarung wirkte die Entdeckung Kochs, der mit genial erdachten, einfachsten Methoden auf künstlichen Nährböden die Bakterien züchtete und ihre Gewinnung in Reinkultur ermöglichte. Mit überraschender Schnelligkeit wuchs der Kreis der nun mit einem Schlage in ihrer Ursache erkannten und einer rationellen Bekämpfung zugänglich gemachten Infektionskrankheiten. Zu ihnen gehörte auch die Wundentzündung und Wundeiterung, welche man früher als eine natürliche Reaktion des Körpers auf den äußeren Insult wie ein Fatum hingenommen hatte, obwohl ihr ständiges Auftreten nach operativen Eingriffen jede wahre wundärztliche Kunst im Keime erstickt hatte. Mit Robert Kochs unübertroffenen Methoden gelang es F. J. Rosenbach, die Erreger dieser Wundentzündung und Wundeiterung ausfindig zu machen. Sie sind Glieder einer großen Gruppe von Bakterien, die wir als Kugelbakterien oder Kokken bezeichnen, und werden Staphylokokken und Streptokokken genannt. Die Staphylokokken oder Traubenkokken, so benannt wegen ihrer Anordnung in traubenförmigen Haufen, sind die verbreitetsten Eitererreger; sie bilden auf künstlichen Nährböden Kolonien von gelber und weißer Farbe und verursachen, je nach ihrer Virulenz, in dem einen Falle nur eine harmlose Rötung und Schwellung der Wundumgebung, in dem anderen die schwerste fortschreitende Zellgewebseiterung und tödliche Blutvergiftung. Nicht ganz so häufige, aber fast noch gefährlichere Schädlinge sind die Streptokokken, die in Ketten angeordneten Kugelbakterien; die von ihnen hervorgerufenen Wundinfektionen pflegen sich durch besondere Bösartigkeit auszuzeichnen: Streptokokken sind die Erreger der

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1367. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/238&oldid=- (Version vom 20.8.2021)