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Erkrankungen des Blutes.

Die Kenntnis der so außerordentlich wichtigen Erkrankungen des Blutes ist durch eine Verbesserung der mikroskopischen Untersuchungs- und Färbetechnik ungeahnt vorangeschritten. Man hat die verschiedenen Formen der weißen Blutkörperchen zu unterscheiden gelernt, so daß man heute wichtige Schlüsse daraus zu ziehen vermag. Auch die Methoden zur Bestimmung des Blutfarbstoffes, der Zählung der einzelnen Zellen wurden beträchtlich verbessert. Am meisten ist dadurch die Kenntnis der Leukämie und Pseudoleukämie, welche meist mit einer außerordentlich starken Vergrößerung der Milz einhergehen und die Lehre von den Anämien (Blutarmut) und der Veränderung des Blutes bei Infektionskrankheiten gefördert worden.

Nervenkrankheiten.

Die Nervenkrankheiten sind seit fast 50, besonders aber auch in den letzten 30 Jahren von den Ärzten der Kulturvölker einem so intensiven Studium unterworfen worden, daß die Neurologie ein schier fast unübersehbares Gebiet geworden ist; sie ist eines der bedeutendsten Spezialfächer der Medizin. Neben der klinischen Beobachtung verdankt sie ihre Höhe erstens der eifrigen mikroskopisch-anatomischen Untersuchung, welche durch glänzende Färbmethoden z. B. die Weigertsche Färbung der Nervenfasern ganz hervorragend unsere Kenntnis der Nervenkrankheiten gefördert hat; zweitens der großen, genialen Methodik der Lumbalpunktion, entdeckt von H. J. Quincke, früher Professor in Kiel, jetzt in Frankfurt lebend, einem der größten deutschen Gelehrten und Forscher, (außer der Lumbalpunktion hat er als erster die Lungenchirurgie in Angriff genommen, wertvolle Arbeiten über den Eisenstoffwechsel, Blutkrankheiten, Nervenkrankheiten, Schimmelpilze, Herzkrankheiten gemacht). Mit bis dahin unerhörter Kühnheit punktierte er bei einem an Wasserkopf leidenden Kinde mittels einer Nadel den Rückenmarkskanal und ließ die Rückenmarksflüssigkeit ab. Die Methode ist heute Allgemeingut der Ärzte; sie hat die Physiologie und Pathologie der „Lumbalflüssigkeit“, die Lehre vom Hirndruck ganz außergewöhnlich gefördert; die Diagnose der Gehirn- und Rückenmarkshautentzündungen, vieler anderen Nervenkrankheiten, die chemische, bakteriologische und Zellenuntersuchung der Lumbalflüssigkeit ist dadurch erst möglich geworden. In therapeutischer Hinsicht hilft sie vielfach in glänzender Weise. Durch Einführung von narkotischen Mitteln z. B. Kokainlösungen in den Lumbalkanal gelang Bier die Unempfindlichmachung von den unteren Teilen des Körpers, so daß z. B. schwerste Operationen ohne allgemeine Narkose ausgeführt werden konnten. Quinckes Name wird als einer der großen Pfadfinder in die Geschichte der Medizin eingetragen sein.

Drittens führte die ätiologische Forschung zu beträchtlichen Fortschritten in der Neurologie. Der Nachweis des Syphiliserregers und die serologische Reaktion nach Wassermann brachten Klarheit in viele unklare Prozesse.

Die verbreitetste organische Nervenkrankheit, die Rückenmarksschwindsucht, ist ebenso wie die verbreitetste Gehirnkrankheit, die Paralyse, syphilitischer Genese. Der große Neurologe Erb, welcher seit Dezennien diese Lehre vertrat, hat am Schlusse seines ungewöhnlich

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1364. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/235&oldid=- (Version vom 20.8.2021)