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Experimentelle Forschung.

Die letzteren Auseinandersetzungen führten uns schon wiederholt auf das Gebiet der experimentellen Forschung, welche in verschiedenen Zweigen unserer Wissenschaft innerhalb der letzten Jahrzehnte so außerordentlich wichtige und zum Teil geradezu Aufsehen erregende Erfolge gezeitigt hat. Wenn wir auch hier einen Versuch machen, sie in kurzem zu charakterisieren, so gehen wir wie vorher am besten wieder von der Zelle und ihrer experimentellen Behandlung aus.

Künstliche Parthenogenesis.

Wohl die überraschendsten und unerwartetsten Befunde sind diejenigen, welche bei Ausführung der sogenannten künstlichen Parthenogenese gewonnen wurden. Die im Gegensatz zu der natürlichen Jungfernzeugung auf experimentellem Wege herbeigeführte „künstliche Parthenogenesis“ besteht darin, daß die Eier von Stachelhäutern (Seeigeln, Seesternen), Würmern, Mollusken und Insekten durch Anwendung geeigneter Salzlösungen oder auf mechanischem Wege (durch Schütteln oder Reiben) veranlaßt werden können, sich ohne Hinzutreten von Samenfäden zu entwickeln. Nach diesen, vor allem den glänzenden Versuchen von J. Loeb zu dankenden Beobachtungen gelingt es, die betreffenden Tiere bis zur Erlangung der ausgebildeten Larvenform aufzuziehen, so daß an ihrer Entwicklung bis zum vollständigen, geschlechtsreifen Tier nicht zu zweifeln ist. Von vornherein würde man es kaum für möglich gehalten haben, daß Tiere, deren Eier normalerweise die Befruchtung nötig haben, ohne diese, d. h. mit Ausschaltung des männlichen Elements zur Entwicklung gelangen könnten.

Merogonie.

Haben wir hier eine der überraschendsten Tatsachen von dem Gebiet der Experimentellen Entwicklungsgeschichte vor uns, deren Besonderheit auch dem Nichtfachmann ohne weiteres einleuchten dürfte, so war für diesen eine andere Entdeckung aus demselben Forschungsgebiet kaum weniger überraschend, nämlich die jetzt als Merogonie bezeichnete Fähigkeit kernloser Eistücke, sich nach Eintritt eines Spermatozoons entwickeln zu können. In dem kernlosen Eistück steht nur die Kernsubstanz der männlichen Zelle zur Verfügung; der für die Befruchtung wesentliche Vorgang der Kernverschmelzung fällt also weg und doch entwickelt sich aus dem Eistück mit dem väterlichen Kern ein vollständiger, nur kleinerer Organismus. Da man die vererblichen Eigenschaften in die Kerne der Keimzellen verlegte und mit diesen übertragen werden ließ, fand man in den auf so eigenartige Weise erzeugten Larven nur die Merkmale des Vaters wieder und Boveri, dem wir die Kenntnis dieser für die Vererbungsfrage sehr wichtigen Erscheinungen verdanken, sprach daher von „Organismen ohne mütterliche Eigenschaften“.

Entwicklungsmechanik. Experimentelle Morphologie.

Mit der Besprechung dieser Vorgänge gelangen wir immer mehr in das Bereich der Entwicklungsmechanik oder Entwicklungsphysiologie, dieses so ungemein bedeutungsvoll gewordenen Zweiges der wissenschaftlichen Zoologie. Auch bei ihr steht das Experiment stark im Vordergrund und mit seiner Hilfe sucht sie

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1347. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/218&oldid=- (Version vom 20.8.2021)