Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 3.pdf/212

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Wenn auch die Deszendenztheorie zu unserer Zeit nicht mehr die gleiche beherrschende Stellung in der Zoologie einnimmt wie vor einigen Jahrzehnten, so braucht kaum hervorgehoben zu werden, daß eine Lehre, die wie selten eine andere in hohem Maße befruchtend und fördernd auf die Entwicklung weiter Wissenskreise eingewirkt hat, alsbald versagen würde, auch wenn sie in einzelnen ihrer Lehrsätze stark angefochten und in ihren Fundamenten zu erschüttern gesucht wird, wie dies in letzter Zeit von mancher Seite geschah. Die Abstammungs- und Entwicklungslehre selbst ist jedenfalls viel zu fest begründet, als daß sie darunter einen wesentlichen Schaden leiden sollte.

Veränderlichkeit der Art, Variation, Mutation.

Von großem allgemeinen Interesse sind gewisse mit diesen Fragen im Zusammenhang stehende Bestrebungen der letzten Jahrzehnte. In der Selektionstheorie spielt die Veränderlichkeit der Art eine wichtige Rolle und bei den Versuchen, die Ursachen zu ergründen, auf denen sie beruht, kam man dazu, gewisse Beobachtungen, die auch Darwin bereits bekannt waren, weiter zu verfolgen und eingehender zu untersuchen. Im allgemeinen scheint die Veränderlichkeit einer Tier- oder Pflanzenart auf unbedeutenden Verschiedenheiten ihrer Merkmale zu beruhen, welche aber durch die fortgesetzte Vererbung verstärkt zu einer allmählichen Abänderung der Art führen können. Demgegenüber legte man neuerdings auf die auch schon von Darwin und anderen behandelte sogenannte sprungweise Variation ein größeres Gewicht, bei welcher unvermittelt starke Verschiedenheiten auftreten und weiter vererbt werden. Derartige plötzlich erscheinende, nicht die unbedeutenden („oszillierenden“ oder „fluktuierenden“) Variationen sollten zur Bildung neuer Arten führen. Diese in besonders energischer Weise von De Vries vertretene, in seiner „Mutationstheorie“ ausgebaute und eingehend begründete Anschauung hat viel Anklang, aber auch manchen Widerspruch gefunden.

Die Frage, ob Mutation oder fluktuierende Variation bei der Artbildung die Hauptrolle spielt, tritt bei den durch längere Zeiträume an verschiedenen Pflanzen und Tierarten fortgeführten Variations- und Vererbungsversuchen immer wieder hervor. Diese interessanten und wichtigen Versuche wurden unter genauer Berücksichtigung der Lebensverhältnisse der betreffenden Organismen ausgeführt und bei ihrer Beurteilung gelangten die variationsstatistischen Methoden zur Verwendung, was ihnen einen besonderen Wert verleiht. Die Forscher, welche sich nach dieser Richtung besondere Verdienste erwarben, können ebensowenig wie bei den vorhergehenden Ausführungen namhaft gemacht werden, doch sei hier wie in Beziehung auf das Folgende immerhin an die Namen von Galton, Quetelet, Pearson, Johannsen, Bateson, Davenport erinnert.

Abändern der Art auf experimentellem Wege.

Wenn von Variabilität die Rede ist, dürfen auch die wichtigen Versuche nicht unerwähnt bleiben, welche nach dieser Richtung ebenfalls an verschiedenen Tierarten angestellt wurden. Aus Weismanns Studien zur Deszendenztheorie ist schon längst bekannt, daß man gewisse Schmetterlingsarten (z. B. das sogenannte Landkärtchen, Vanessa

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1341. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/212&oldid=- (Version vom 20.8.2021)