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und des Verstandes, der theoretischen und der praktischen Vernunft zu überwinden. Die letzte Zusammenfassung fehlte dem Ganzen und manchen Stücken seiner Philosophie. Nachdem der vereinheitlichende Abschluß gefunden war, nachdem K. L. Reinhold den Satz des Bewußtseins als Grundlage der transzendentalen Ästhetik und Logik, nachdem F. G. Fichte eine allgemeine Wissenschaftslehre als Grundlage der Kritik der reinen und der praktischen Vernunft vorangestellt hatten, glaubten sie den Leser ihrer Schriften dort absetzen zu können, wo Kant anhob.

Diese Stimmung hielt freilich nicht lange vor. Kant selbst wehrte sich 1799 in einer geharnischten Erklärung gegen den Anspruch Fichtes, ihn zu unterbauen, obwohl er die Wissenschaftslehre nie gelesen hatte, und Fichte nannte ihn daraufhin einen Dreiviertelskopf und hat die späteren Darstellungen der Wissenschaftslehre unabhängiger gestaltet. Seine Nachfolger vollends hatten bereits ein ganz anderes Verhältnis zu Kant, indem sie Fichtes Idealismus zu einem objektiven und absoluten auszubauen suchten. Schelling schreibt, Kant lebe der seligen Einbildung, das Zeitalter stehe noch da, wo es gerade vor zehn Jahren gestanden hat, nämlich beim Nachbeten der Kritik, und glaube, die Kritik hätte nicht nur für jetzt, sondern für alle folgenden Zeitalter die Herkulessäulen des Denkens errichtet. Dabei wurde namentlich auch die allzuschmale einzelwissenschaftliche Basis der Kantischen Philosophie verbreitert, indem die empirische Naturwissenschaft und die Geisteswissenschaften Berücksichtigung fanden. Schon Kant selbst hatte noch in seinen letzten Lebensjahren von seiner Philosophie aus den Übergang zur empirischen Naturlehre herzustellen versucht, ohne über Anläufe und unklare Wendungen hinauszukommen. Hier setzte Schelling mit seiner Naturphilosophie ein, die gerade die Physik, Chemie und Biologie in sich aufzunehmen und zu einem System des sich entwickelnden Universums zu verarbeiten wußte. Dazu trat Hegel mit ausgesprochen historischen und politischen Interessen und mit der Richtung auf den absoluten Geist als letzte und höchste Tendenz des Alls. So entstand eine Philosophie, die im Prinzip als abgeschlossen gelten konnte, ein Inbegriff voll entfalteter Weisheit auf allen Gebieten menschlicher Einsicht, die Krone der Bildung und Kultur jenes von Kriegen zerrütteten und hernach in kleinbürgerliches Stillleben versunkenen Zeitalters. Schon 1801 prophezeit Schelling: es wird fortan nur ein Gegenstand sein, und nur ein Geist, ein Erkennen, ein Wissen dieses Gegenstandes.

Niedergang.

Keine andere philosophische Erscheinung, weder Herbarts vorsichtige und strenge Metaphysik, noch Schopenhauers phantasievoll ausgeführte Weltanschauung, konnte sich damals eine allgemeinere Beachtung erringen. Sie kamen erst auf, als die Auflösung der Hegelschen Schule und der Schiffbruch der absoluten Philosophie an den Methoden und Ergebnissen der Einzelwissenschaften vollendete Tatsachen geworden waren. Aber zu der glänzenden, unbestrittenen Herrschaft über die Geister, wie sie Hegel ausgeübt hatte, haben sie es auch später nicht gebracht, so sehr sich an Herbart die zünftigen und an Schopenhauer die dilettierenden Philosophen anschlossen. Mit dem Bann der absoluten Philosophie schien überhaupt der maßgebende Einfluß aller Philosophie aufgehoben zu sein. Auch Denker wie Fechner

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1148. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/19&oldid=- (Version vom 9.3.2019)