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Die Chemie
Von Dr. phil. et jur. Richard Anschütz, Geh. Reg.-Rat und o. ö. Prof. der Chemie an der Universität Bonn


Die Naturwissenschaften sind im besten Sinne des Wortes international, wie denn auch ihre Errungenschaften dem ganzen Menschengeschlechte zugute kommen. Allein für die Entwicklung der Naturwissenschaften sind die Bedingungen bei den Kulturvölkern verschiedenartig und verschieden günstig zu verschiedenen Zeiten gewesen. Insofern ist eine Untersuchung berechtigt, die die Hauptfortschritte der Chemie in Deutschland während der letzten fünfundzwanzig Jahre zu schildern unternimmt. Freilich wird man das nicht dürfen, ohne in anderen Ländern erzielte Entdeckungen zu erwähnen, weil sonst jeder Vergleich der deutschen mit den ausländischen Leistungen verloren ginge, und diese Leistungen sich doch vielfach wechselseitig beeinflußt haben. Denn es liegt keineswegs so, daß die deutsche Chemie in allen Forschungsrichtungen die erste Stelle behauptet. Die Ideen, die zu den wichtigsten Entdeckungen führten, keimen meist da, wo ihnen die günstigsten Lebensbedingungen beschieden sind. Diese Bedingungen waren Ende des achtzehnten und Anfang des neunzehnten Jahrhunderts unzweifelhaft in England und Frankreich günstiger als in unserem Vaterlande. Es bedurfte zäher erzieherischer Arbeit, bis sich in Deutschland die Bedingungen für die Entwicklung der Chemie so vorteilhaft gestalteten, daß unsere Nation im Verlauf der letzten 25 Jahre in der Fülle der Auffindung neuer chemischer Tatsachen alle anderen Nationen zu übertreffen vermochte. Die Ursachen dieser Erfolge liegen vor allem in der Organisation des deutschen chemischen Hochschulunterrichtes. Seit Justus Liebig gegen die Mitte vorigen Jahrhunderts in Gießen das erste chemische Unterrichtslaboratorium eingerichtet und mit beispiellosem Lehrerfolg dann Chemiker aller Kulturvölker ausgebildet hatte, waren die deutschen Regierungen einsichtig genug, auf ihren Hochschulen immer vollkommener eingerichtete chemische Institute zu schaffen. Von dort aus nahmen die wissenschaftlichen Forschungsmethoden ihren Einzug in die deutschen chemischen Fabriken, die ihre glänzenden Erfolge der Durchdringung der chemischen Technik mit wissenschaftlicher Forschung verdanken. Leider entziehen sich viele in den Fabriken gewonnene Forschungsergebnisse der Veröffentlichung. Das Ausland aber zog aus unserem chemischen Hochschulunterricht in zweifacher Hinsicht Nutzen. Deutsche Chemiker fanden im Ausland Stellung, dort Wissenschaft und Technik fördernd. Eine Reihe ausländischer Chemiker erhielten auf unseren Hochschulen eine Ausbildung in Chemie, die ihre späteren Leistungen wesentlich beeinflußte. Trotz dieses unlösbaren Zusammenhangs zwischen den chemischen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1294. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/165&oldid=- (Version vom 20.8.2021)