Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 3.pdf/101

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

„Die nähere Beschäftigung mit dem Gegenstande führte mich zu der Erkenntnis, daß der systematische Aufbau einer allgemeinen Theorie der linearen Integralgleichungen für die gesamte Analysis, insbesondere für die Theorie der bestimmten Integrale und die Theorie der Entwicklung willkürlicher Funktionen in unendliche Reihen, ferner für die Theorie der linearen Differentialgleichungen sowie für die Potentialtheorie und Variationsrechnung von höchster Bedeutung ist … Meine Untersuchung wird zeigen, daß die Theorie der Entwicklung willkürlicher Funktionen durchaus nicht die Heranziehung von gewöhnlichen oder partiellen Differentialgleichungen erfordert, sondern daß die Integralgleichung es ist, die die notwendigen Grundlagen und den natürlichen Ausgangspunkt für eine Theorie der Reihenentwicklung bildet …Zugleich erhält dabei die Frage nach der Existenz der Eigenfunktionen eine neue und vollständigere Beantwortung … Durch Anwendung meiner Theoreme folgt nicht nur die Existenz der Eigenfunktionen im allgemeinsten Falle, sondern meine Theorie liefert zugleich in einfacher Form die notwendige und hinreichende Bedingung für die Existenz unendlich vieler Eigenfunktionen.“ Dem Beispiele dieses Meisters eiferten seine begeisterten Schüler mit glücklichstem Erfolge nach, sodann aber auch viele andere deutsche und ausländische Mathematiker.

Ausbau der allgemeinen Funktionentheorie.

In der allgemeinen Funktionentheorie wurde rüstig fortgearbeitet. Die von Riemann und Weierstraß stammenden fundamentalen Gedanken zogen bei ihrer Ausbreitung nun auch viele Kräfte des Auslandes in ihren Bann. In Frankreich streute der geniale Poincaré neue treibende Ideen aus, die eine Reihe talentvoller junger Mathematiker zur eifrigen Mitarbeit begeisterten und dann rückwirkend auf Deutschland einen anfeuernden Einfluß ausübten. Die Prinzipien der Analysis wurden sorgfältig erörtert, und die schon früher erwähnten Gebiete der ganzen transzendenten und der automorphen Funktionen wuchsen unter der liebevollen Pflege. Indem Poincaré den Namen „Fuchssche Funktionen“ und „Kleinsche Funktionen“ einführte, erkannte er mit seinem Gerechtigkeitssinne an, daß diese neuen Begriffe aus deutschen Arbeiten entsprossen waren. Ein näheres Eingehen auf die mannigfachen Fortschritte in den einzelnen Zweigen der Funktionentheorie müssen wir uns versagen; nur durch die Erwähnung einzelner literarischer Erscheinungen möge ein etwas lebensvolleres Bild erzeugt werden.

Aus dem Nachlasse von Riemann und aus Kollegienheften seiner Schüler sind zwei Ergänzungen zu seinen „Gesammelten Werken“ veröffentlicht: „Nachträge“, herausgegeben von M. Noether und W. Wirtinger, und „Vorlesungen über elliptische Funktionen“, herausgegeben von H. Stahl. – Unter dem bescheidenen Titel „Entwicklungen nach oszillierenden Funktionen und Integration der Differentialgleichungen der mathematischen Physik“ hat Burkhardt einen Bericht für die Deutsche Mathematiker-Vereinigung vollendet, der als ein Riesenwerk von 1804 Seiten durch die Verarbeitung aller bezüglichen Schriften eine Vorstellung von der Entwicklung der Funktionentheorie gibt. Die Theorie der elliptischen und der Abelschen Funktionen ist in verschiedenen zusammenfassenden Lehrbüchern dargestellt worden. F. Schottky besonders hat die Forschung

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/101&oldid=- (Version vom 20.8.2021)