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für die gewerblichen Arbeiter beiderlei Geschlechts unter 18 Jahren einzuführen und diejenigen Anordnungen zu treffen, die zur Sicherung eines regelmäßigen Schulbesuchs erforderlich sind und dazu dienen, die Ordnung in der Fortbildungsschule und ein gebührliches Verhalten der Schüler zu sichern. Die Fortbildungsschulpflicht erstreckt sich, wenn sie in dieser Weise eingeführt ist, auch auf die Zeit der Arbeitslosigkeit. Die Gesetzgebung einzelner Bundesstaaten hat die von der Reichs-Gewerbeordnung getroffene Anordnung in glücklicher Weise dadurch ergänzt, daß sie an die Stelle der vom Ermessen der Gemeinden und weiteren Kommunalverbände abhängigen statutarischen Schulpflicht eine gesetzliche Fortbildungsschulpflicht der jugendlichen gewerblichen Arbeiter eingeführt und gleichzeitig den Gemeinden die Verpflichtung zur Errichtung gewerblicher und kaufmännischer Fortbildungsschulen auferlegt hat; so insbesondere Württemberg, das durch Gesetz vom 22. Juli 1906 diese Anordnung für alle Gemeinden getroffen hat, in denen dauernd mindestens 40 schulpflichtige gewerbliche Arbeiter vorhanden sind. In Preußen, wo zwar die Bestimmungen der Gewerbeordnung in die Novelle zum allgemeinen Berggesetz vom 24. Juni 1892 (§ 87) übernommen sind, war ein ähnliches gesetzgeberisches Vorgehen wie in Württemberg geplant, ist aber nicht zum Ziel gekommen. Der Entwurf eines Pflichtfortbildungsschulgesetzes, den die Staatsregierung im Frühjahr 1911 vorlegte und der die Errichtung von Fortbildungsschulen in allen Gemeinden mit mehr als 10 000 Einwohnern vorsah, ist nicht über die Beratung in der Kommission des Abgeordnetenhauses hinausgelangt und nach Schluß der Landtagssession nicht wieder vorgelegt worden.

Erzieherische Aufgaben.

Die Ausgestaltung der Fortbildungsschule zu einer gewerblichen und kaufmännischen Berufsschule hat wesentlich dazu beigetragen, die Gegnerschaft der Gewerbetreibenden gegen die Fortbildungsschule, die von ihnen wegen der Nötigung, den jugendlichen Arbeitern die Zeit zum Schulbesuch freizugeben, als lästige Einrichtung empfunden wurde, zu beseitigen oder doch zu mildern. Trotzdem hat es nicht an Stimmen gefehlt, die diese Entwicklung als einen Irrweg verwerfen. Kein Geringerer als der Generalfeldmarschall Graf von Haeseler hat im Herrenhause (am 21. Mai 1912) Klage darüber geführt, daß die städtischen Fortbildungsschulen lediglich zu Fachschulen geworden seien. Darin liegt der Vorwurf, daß die Schule über ihren unterrichtlichen ihre erzieherischen Aufgaben vergessen habe. Begründet ist dieser Vorwurf nicht. Mögen einzelne Schulmänner bei der Entwicklung des fachlichen Charakters des Unterrichts in einer Art Entdeckerfreude zu weit gegangen sein, im allgemeinen kann die Fortbildungsschule für sich in Anspruch nehmen, daß sie sich ihrer erzieherischen Pflicht immer bewußt geblieben ist. Es ist kein Wort darüber zu verlieren, daß die jungen Menschen, die mit 14 Jahren die Volksschule verlassen und ins Leben treten, keine reifen Charaktere sind, sondern noch der Leitung und Erziehung bedürfen; nur möge man nicht glauben, daß ein allgemeiner, in den Bahnen der Volksschule sich bewegender Unterricht die Jugend fesseln und einer sittlichen Beeinflussung den Weg ebnen würde. Der junge Mensch, der als Arbeiter oder Lehrling in das gewerbliche Leben eingetreten ist, bewertet den Unterricht, zu

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/696&oldid=- (Version vom 20.8.2021)